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Aus: Migration, Beilage der jW vom 18.06.2025
Staatlich gesteuerte Migration

Push and pull

Kapital verlangt nach Zuwanderung, doch viele vergällen sie: Ein Dilemma, mit dem die Regierung umgehen muss. Von Niki Uhlmann
Von Niki Uhlmann
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Innerhalb der Türkei ziehen Saisonkräfte aus dem Osten und Südosten Anatoliens auf die Felder der Amik-Ebene nahe der syrischen Grenze (Reyhanli, 23.5.2024)

Die BRD ist mit der Jahreswende in ihr drittes aufeinanderfolgendes Rezessionsjahr und einen maßgeblich von rassistischen Ressentiments geprägten Bundestagswahlkampf geschlittert. Die neue, CDU-geführte Regierung schickt sich nun an, eine von ihr zum Hauptproblem erklärte Entwicklung zu bearbeiten, die Max Frisch bereits 1965 auf den Punkt gebracht hat: »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.«

Das deutsche Kapital verlangt nach einem international wettbewerbsfähigen Arbeitsmarkt im Inland. Um dessen Bedarf zu decken, müssten bis 2040 jährlich rund 288.000 ausländische Arbeitskräfte zuwandern, prognostizierte vergangenen November die private Bertelsmann-Stiftung. Derweil ist ein wachsender Teil der deutschen Gesellschaft zunehmend weniger gewillt, die bescheidenen Segnungen seiner Existenz im imperialistischen Zentrum mit jenen Fremden zu teilen. Ist wie in der BRD mindestens jeder sechste Mensch arm, kann Zuwanderung bestehende Verteilungskämpfe verschärfen.

Letztere werden mit allerlei Lügen über Zuwanderer ausgefochten, auf die die Einwanderungsbefürworter stets mit Richtigstellungen reagieren. Tatsächlich sind Migranten weder aufgrund ihrer Herkunft besonders kriminell, wie das kapitalnahe Ifo-Institut im Februar zeigte, noch liegen sie dem Staat auf der Tasche, wie der »Wirtschaftsweise« Martin Werding Anfang Mai im Mediendienst Integration vorrechnete. Demnach koste Einwanderung zwar viel Geld, reduziere langfristig aber die »demographiebedingte Tragfähigkeitslücke der öffentlichen Finanzen«.

Für die Volkswirtschaft der BRD ist Migration eine Bereicherung. Darum wissen die Regierenden und versuchen sie möglichst ökonomisch zu gestalten, wobei sie sämtliche Härten gegen die, die sich hierzulande erst als willige Arbeitskräfte beweisen müssen, gezielt verschärfen. So ist dem Koalitionsvertrag von Union und SPD zu entnehmen, dass Deutschland »ein einwanderungsfreundliches Land bleiben«, dabei aber »Anreize, in die Sozialsysteme einzuwandern, deutlich reduzieren« und »irreguläre Migration wirksam zurückdrängen« werde. Genau darum bemüht sich aktuell das Bundesinnenministerium (BMI).

Anwerben …

Wer in der BRD Fuß fassen will, braucht zunächst eine Aufenthaltserlaubnis. Dafür ist das oberste Kriterium – abgesehen von anerkannten Fluchtgründen – die Eignung für den deutschen Arbeitsmarkt. Die genauen Voraussetzungen erklärt das BMI in mehreren Sprachen: »Neben einem Arbeitsvertrag ist erforderlich, dass die Gleichwertigkeit mit einer inländischen qualifizierten Ausbildung festgestellt wird und das Gehalt dem eines deutschen Arbeitnehmers entspricht.« Dezent erkennt das BMI den ausbeuterischen Kern dieser regulären Migration mit seiner dritten Bedingung an: Wären keine Lohnuntergrenzen festgelegt, würde das BRD-Kapital alsbald ein Heer von Ausländern als Lohndrücker beschäftigen.

Umgekehrt macht der Staat diese Tendenz für das heimische Kapital sogar produktiv, sofern es der Arbeitsmarkt erfordert. Dessen »Fachkräftesituation« analysiert die Bundesagentur für Arbeit einmal pro Jahr und gibt daraufhin die »Engpassberufe« bekannt. Bei entsprechender Qualifikation gelten erleichterte Zuwanderungsbedingungen – darunter ein geringeres Mindestbruttogehalt. Bevor Berufsgruppen also aufgrund eines ausgeprägten Fachkräftemangels gegenüber ihren Lohnstiftern bedeutend höhere Ansprüche geltend machen können, wird für einen Nachschub von Arbeitskräften, sprich ein wettbewerbsfähiges Lohnniveau gesorgt.

Weil das hervorragend funktioniert, heißt es beim BMI weiter: »Deutschland ist daran gelegen, Fachkräfte im Land zu halten.« Dafür werden Integrationskurse angeboten oder angeordnet und im Falle einer eingepreisten Erwerbslosigkeit vorübergehend sogar Sozialleistungen ausgeschüttet. Das ist teuer: »Im Kontext von Flucht und Migration« habe der Bund »2024 Ausgaben von insgesamt rund 28 Milliarden Euro getragen«, unterrichtete selbiger Anfang Juni den Bundestag. Davon seien fast 30 Prozent auf »die Bekämpfung der Fluchtursachen« entfallen. Letztere ist wiederum nur ein Teil dieser Aufwendungen, die zur hiesigen Kapitalproduktivität überhaupt nichts beitragen.

… und Abschieben

Den Hunger des deutschen Arbeitsmarkts und die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen nehmen allerlei Migranten zum Anlass für eigenmächtige Zuwanderung. Diese wertet der Staat als »irregulär« und will sie »zurückdrängen«, wobei die Regierung formaljuristisch durch das qua Anerkennung der Genfer Flüchtlingskonventionen verankerte Grundrecht auf Asyl in ihrem Eifer gebremst wird. Jene, die es über die Grenze geschafft haben, dürfen bleiben, bis über die Rechtmäßigkeit ihrer Einwanderungs- respektive Fluchtgründe befunden wurde. Derweil gibt es dem Asylbewerberleistungsgesetz gemäß möglichst schmale Zuwendungen, fallen also weitere Kosten an, die sich womöglich nicht rentieren.

Fällig sei darum »eine grundlegende Reform des Asylrechts«, schrieb Christoph Bernhard de Vries (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesinnenministers und als solcher Abschiebebeauftragter, Anfang April auf Facebook. »Die heutige Migrationspraxis« habe »nichts mehr mit dem Ursprungsgedanken des Asylrechts zu tun«, würde von »Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten« ausgenutzt, die anderswo unterkommen sollten, sei letztlich ein »Missbrauch unseres Asylrechts«. Er macht den Migranten die Beanspruchung deutscher Rechtsnormen zum Vorwurf – und trägt damit seinen Teil zur rassistischen Begleitpropaganda des Aussortierens von Zuwanderern bei.

Vorerst greift Bundesinnenminister ­Alexander Dobrindt (CSU) in die juristische Trickkiste. Anfang Mai bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, Grenzkontrollen anzuordnen, um das Aufkommen individualrechtlicher Bleiberechtsprüfungen zu verringern. Er begründete das mit »Überforderung«, obwohl im ersten Quartal 2025 30.000 weniger Erstanträge als im Vorjahr gestellt worden waren und das BMI bis dato die Auffassung vertreten hatte, pauschale Zurückweisungen von Asylsuchenden seien nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Diese Praxis bricht geltendes Recht, stellte nur einen Monat später das Verwaltungsgericht Berlin im Falle von drei Menschen aus Somalia fest. Doch der zweite Streich ist schon geplant. Anfang Juni gab Dobrindt bekannt, dass über »sichere Herkunftsländer« künftig nicht mehr von Bundestag und -rat entschieden werden solle, sondern per Rechtsverordnung der Regierung. Das würde letzterer einräumen, das Recht auf Asyl nach Gutdünken zu verwehren und Menschen hemmungsloser abzuschieben.

Ohnmacht und Willkür

Manche Migranten haben Glück, sind erst geduldet, dürfen dann bleiben, später einer Lohnarbeit nachgehen, können irgendwann eine Niederlassungserlaubnis beantragen, letztlich deutsche Staatsbürger werden und eine Existenz für sich, womöglich sogar für ihre Familie aufbauen. Andere haben Pech, integrieren sich, absolvieren eine Ausbildung, rackern sich krumm, zahlen pflichtbewusst in die Sozialsysteme ein, beulen damit die demographische Delle aus und werden letztlich trotzdem abgeschoben – wie es im Mai einer afghanischen Kitaerzieherin widerfuhr.

Vorläufig wurde 2024 mit 291.955 Einbürgerungen ein neuer Höchststand erreicht, wie das Statistische Bundesamt am 10. Juni mitteilte. Grund seien auch »rechtliche Änderungen an den Einbürgerungsvoraussetzungen«, die die Ampel veranlasst hatte. Kapitalinteressen stechen den Volkszorn nun mal. Um letzteren zu beschwichtigen, will das Kabinett von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Uhr zurückdrehen. Fünf Jahre sollen Migranten sich beweisen müssen, »für eine bessere Integration« oder eben ökonomischere Selektion.

Niki Uhlmann macht sein Volontariat derzeit in der Innenpolitik-Redaktion der Tageszeitung junge Welt

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