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Aus: Wein, Beilage der jW vom 11.06.2025
Weinviertel

Ausfahrt und Einkehr

Im Weinviertel treffen jährlich historische Rennräder auf gute Weine
Von Christophe Immer
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Mural (Cafayate, Argentinien)

Verschiedene Typen gibt es von ihm: den sächsischen Schieler oder den württembergischen Schiller. Ein gemischter Satz: mehrere Rebsorten auf einer Parzelle zusammen angepflanzt, zusammen geerntet, zusammen gekeltert und zu Wein vergoren. Die ursprüngliche Art des Weinbaus, Resilienz in Vielfalt: unterschiedliche Reifepunkte, Zuckergehalte, Säuregrade; verbreitet lange vor der monokulturellen Umstellung auf sortenreine Weine. Lage und Terroir stehen vor der Traube. Als Districtus Austriae Controllatus (DAC), also gebietstypischer Qualitätswein Österreichs anerkannt ist jedoch lediglich der »Wiener Gemischte Satz«, und das erst seit 2013. Das sind Weißweine aus mindestens drei Rebsorten.

Horst Watzl ist Wiener und Radsportler. Und als solcher kein Fremder in den rollenden Hügeln des Weinviertels, einem der Fahrradreviere der Wiener. Fährt man gen Osten aus der Stadt heraus, kommt das Marchfeld, flach, die Getreidekammer Wiens, eine Schotterebene, die offiziell zum Weinviertel gehört, genauer besehen aber nicht. Das eigentliche Weinviertel beginnt erst nördlicher mit dem Hügelland. Und das bietet auch die schöneren Ausfahrten.

Knapp 600 Hektar umfasst das Anbaugebiet Wien, und innerstädtische Weinstöcke mag es geben, angebaut wird in den Vorstädten, im nahen Umland. Auf Gemischten Satz verzichtet hier kein Winzer, knapp die Hälfte der Wiener Flächen sind so bestockt. Und die Stadt kümmert sich: Um der Flächenversiegelung etwas entgegenzusetzen und die Immobilienspekulation zu verhindern, erließ der Wiener Landtag 2014 ein Gesetz, das festlegt, dass derjenige, der einen Weingarten kauft, auch Wein anbauen muss. Eine Bauerlaubnis für Villen inmitten von Weinstöcken wird nicht mehr erteilt. Bodenspekulation, die zuvor die rund 250 Weinbaubetriebe Wiens unter Druck gesetzt hatte, ist somit erschwert. Einstimmig hat die Stadt damals ihre Weinbauflächen praktisch unter Denkmalschutz gestellt.

Horst Watzl fuhr 2008 erstmals bei der Eroica mit, jenem Fahrradrennen, bei dem Tausende Hobbysportler aus der ganzen Welt auf historischen Rädern die weißen Straßen, die strade bianche, der Toskana befahren. Seit 1997 gibt es die Veranstaltung bereits, Monate vor dem Start im Oktober ist sie ausgebucht, Gaiole in Chianti, das kleine toskanische Dorf, bis zum Start völlig überlaufen. Watzl war begeistert. Vom Radsport eh und von den schönen, alten Rennrädern – Colnago, Tommasini, Chesini. Und von der Kombination aus Genuss und Radfahren. Schlecht lebt man auch in der Toskana nicht, man isst gut, wie es für Weinbauregionen typisch ist, guten Wein gibt es eh. Wie dahoam, dachte sich Watzl. So war die Idee geboren, zu Hause eine Veranstaltung aus der Wiege zu heben, die der Eroica ähnlich sein sollte: So entstand In Velo Veritas (IVV). Mitstreiter für die Organisation zu finden war leicht. Seit der ersten Ausgabe im Jahr 2012 stecken drei Aktive hinter dem IVV-Wochenende.

In einem stillgelegten Berliner Straßenbahndepot lernte ich Horst Watzl vor ungefähr einem Dutzend Jahren kennen, auf einer Fahrradmesse, die es nicht mehr gibt. Horst warb für seine Veranstaltung und hatte als Wiener Gemischten Satz dabei, schließlich ist die Versorgungslage für Genussmenschen in der sehr besonderen politischen Einheit Berlin ja mehr als fragwürdig. Der Gemischte Satz, jener Wein also, der auch bei den jährlichen Vorbereitungen für IVV nicht fehlen darf, tat das seine für die Begeisterung für das Weinviertler Radsportevent.

Die Regeln der Ausfahrt sind einfach. Drei Strecken sind im Angebot – genussreiche 70 Kilometer, anspruchsvolle 140 Kilometer oder »epische« 210 Kilometer. Mehr als 800 Begeisterte finden sich mittlerweile jedes Jahr am Start ein. Die Strecke wird auf historischen Rennrädern absolviert, Räder, die höchstens auf dem Stand der Technik der 80er Jahre sind: rahmengeschaltet, mit Riemenpedalen und den Zügen frei am Lenker, »Wäscheleinen«. Die Rahmen sind zumeist aus Stahl, frühe Pioniere des Aluminiumrahmenbaus wie Vitus oder Alan werden akzeptiert, Carbon kommt kaum vor.

Historisch auch die Bekleidung der Teilnehmenden: viel Wolle, wenig Lycra, Längst untergegangene Sponsoren längst untergegangener Teams präsentieren sich auf den Trikots. Um die 700 Höhenmeter kommen bei jeder der Strecken dazu, ein Wechselspiel aus Seitenstraßen und Wirtschaftswegen. Hügelig ist das Weinviertel, und irgendwann spürt man die Beine, hinterfragt den masochistischen Aspekt der Ausfahrt, wünscht sich modernes Material.

Doch ruhige Straßen, schöne Landschaften, gastfreundliche Menschen zerstreuen die Zweifel. Ein wirkliches Rennen ist IVV nicht, auch die Zeit wird nicht genommen. Es genügt, ins Ziel zu kommen, bevor es abgebaut wird, um dann dort seine Karte vorzuzeigen, die jeweils an den »Laben«, den Verpflegungspunkten, gestempelt wurde.

Dafür gibt es dann im Ziel eine Urkunde, und eine Flasche Weinviertel DAC, einen Grünen Veltliner. Trocken, hell- bis grüngelb in der Farbe, fruchtig, sanft pfeffrig im Geschmack, und ausschließlich aus Trauben aus dem Weinviertel gekeltert. Eine autochthone Rebsorte Niederösterreichs. Über 7.000 Hektar, mehr als ein Drittel des weltweiten Bestands, findet sich im Weinviertel. Grüner Veltliner wird auch im Ziel ausgeschenkt, zur hervorragenden regionalen Verpflegung gehört das einfach dazu. Anschließend lässt sich über den Fahrradflohmarkt schlendern, einen radsportspezifischen Veteranenmarkt, um sich mit historischen Teilen einzudecken. Dann wird lange gesessen, getrunken. Man tauscht sich aus.

Die nächste In Velo Veritas findet am 14. und 15. Juni statt und beginnt mit einem gemeinsamen Abendessen am Sonnabend. Poysdorf, rund 70 Kilometer nordöstlich von Wien gelegen, ist Start und Ziel der diesjährigen Ausfahrt am Sonntag. Nach Auskunft der Veranstalter sind noch Nachnennungen möglich. Man kann sich also beteiligen. Das Weinviertel, dem Wahlspruch »Genussvolle Gelassenheit« verpflichtet, ist aber auch jenseits der Veranstaltung eine Empfehlung für Genuss- und Radtourismus, der »Gemischte Satz« ist dabei eine hervorragende Ergänzung.

Mehr Informationen unter: https://www.inveloveritas.at/

Christophe Immer ist Mitarbeiter dieser Zeitung

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