Im Herzen Palästina
Von Mathias Dehne
Die römischen Ruinen von Gerasa sind ein großer Tourismusmagnet in Jordanien. Auch während des diesjährigen Fastenmonats Ramadan sollte eine Vielzahl europäischer und US-amerikanischer Touristen den heißen Sandstein bevölkern. Gerasa liegt im Gouvernement Dscharasch zwischen der Hauptstadt Amman und der zweitgrößten Stadt Irbid im Norden des Landes. Verborgen bleibt den meisten, dass auch in Gerasa die Greuel der ethnischen Säuberung Palästinas ihre Spuren hinterlassen haben.
Gerade einmal fünf Kilometer vom Tourismusmagnet entfernt liegt das Flüchtlingslager des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Es ist lokal vor allem unter dem Namen Gazacamp bekannt. Es ist das ärmste der zehn offiziellen UNRWA-Flüchtlingslager Jordaniens, ganz gleich welche Statistik zu Rate gezogen wird. Die Tragik ist, dass ein Großteil der heute offiziell 2,4 Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien vollumfängliche Rechte als jordanische Staatsbürger genießen. Sie waren 1948 im Rahmen der Staatsgründung Israels während der Nakba (Katastrophe) aus ihrer palästinensischen Heimat vertrieben und von Jordanien aufgenommen worden.
Die Bewohner des Gazacamps indes kamen nach der Naksa (Rückschlag) 1967 – als Israel rund 300.000 Palästinenser aus dem Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen im Laufe des Junikrieges vertrieben hat. Während dieser Krieg für die verbliebenen palästinensischen Gebiete ein bis heute andauerndes Besatzungsregime und System der Apartheid zementierte, wurden in Gerasa eilig Zelte errichtet, um den mehrheitlich aus Gaza stammenden Geflüchteten eine provisorische Heimat zu bieten. Wie andernorts auch: Die ursprünglich 1.500 Zelte wurden später durch 2.500 Fertighäuser ersetzt, um den harten Wintern zu trotzen, ehe die Bewohner des Lagers schließlich robustere Betonbauten errichteten. Noch heute bestehen viele Dächer aus Wellblech und Asbest. Die Gesundheitsrisiken mögen eine Dimension sein, um die Situation der knapp 36.000 Bewohner des Gazacamps zu beschreiben. Mangelnde Rechte auf Teilhabe an Arbeit und Bildung und grassierende Armut charakterisieren die andere Seite. Bis heute haben die wenigsten von ihnen die jordanische Staatsbürgerschaft erhalten.
Wo der Widerstand wächst
Unser Begleiter Walid hatte uns vorsorglich auf diesen Umstand vorbereitet. Was es wirklich bedeutet, sollten wir später vor Ort erfahren. Walid war in den 1980er Jahren in jenes Deutschland gekommen, in dem die Solidarität mit Befreiungskämpfen des globalen Südens Staatsräson war. In der DDR absolvierte er eine Ausbildung in Medizintechnik. Mit ihm hatten wir bereits seinen Geburtsort – das UNRWA-Lager in Irbid – besucht.
Es wurde 1951 für Flüchtlinge der Nakba errichtet und beherbergt derzeit 31.000 Menschen. Dort konnte uns Walid lebhaft zeigen, welche Auswirkungen der jordanische Bürgerkrieg zwischen den im Land befindlichen palästinensischen Kampforganisationen und dem Königshaus (»Schwarzer September«) subjektiv für ihn als Kind hatte. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, immer an den Wänden entlang zu schleichen. Als die Sniper von König Husseins Truppen auf ihn zielten, sollte er die Erfahrung am eigenen Leib machen. Sie verfehlten ihn knapp. Die Einschusslöcher an Wänden und Laternen zeugen heute noch von jener Zeit und wie knapp er dem Tod entgangen war. Zu Walids Familiengeschichte gehört auch, dass sein Bruder Adnan damals bis zum bitteren Ende des einwöchigen Häuserkampfes gekämpft hatte. Er schmiss seine Kalaschnikow schließlich zu einem Nachbarn in den Garten. Jeder wusste, dass er es gewesen war, als die jordanischen Truppen nach ihm suchten. Verraten hat ihn niemand.
In Irbid erfuhren wir mehr über die Widerstandsfähigkeit der palästinensischen Diaspora. Im Lager waren wir mit Said verabredet. Er war mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1980ern im Libanon. 2010 war er Teil der Besatzung der »Mavi Marmara«, die die Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen und Hilfsgüter in die von Israel abgeriegelte Küstenenklave zu transportieren versuchte. Sie wurden von der israelischen Armee aufgehalten, wehrten sich aber bis zum Schluss zum Teil mit herausgebrochenen Geländerstangen des Schiffs. Es kam zu Verletzten und Toten. Said saß eine Woche in Beer Sheva in Haft.
Im ehemaligen UNRWA-Krankenhaus hat Said das Projekt »Al Faruk« gegründet, das sich Halb- und Vollwaisen im Lager verschrieben hat. Während Ramadan bietet es den Kindern ein kostenloses Iftar. Wir aßen gemeinsam mit ihnen, nachdem wir uns vor sportlichen Angeboten der Kinder auf dem von der kanadischen Regierung subventionierten Kunstrasenplatz kaum hatten retten können. Bei allen Problemen, die mit dem Leben im Lager allgemein und speziell mit dem Schicksal der Kinder einhergehen, war spürbar, welche Rolle der Fußballplatz als Anlaufstelle für sie im Alltag spielt. Von den Sozialarbeitern wurden die Kinder darauf eingeschworen, dass der Kampf für die palästinensische Sache nicht zu Ende ist. Laut schallte es als Antwort über den Platz: »Wir werden alles tun, um zurückzukehren!«
In Analogie zum UNRWA-Lager Irbid steht auch das zweitgrößte palästinensische Flüchtlingslager Jordaniens – Al-Wehdat – in Amman. Aus 1951 eilig errichteten Provisorien wurden irgendwann robustere Betonbauten. Ein Effekt: Die palästinensische Diaspora hat sich trotz des Wunsches nach und eines von den Vereinten Nationen verbrieften Rechtes auf Rückkehr vor Ort manifestiert. Heute sind die Lager in den meisten Fällen nur aus der Vogelperspektive von dem Rest der Städte zu unterscheiden; sie haben sich zu stadtähnlichen Quartieren entwickelt. Neben diesen zum Teil sichtbaren Unterschieden existieren auch die unsichtbaren.
In Irbid wie auch Al-Wehdat leben über 30 Prozent der Einwohner unterhalb der nationalen Armutsgrenze von 814 jordanischen Dinar (rund 1.015 Euro) pro Kopf und Jahr. Wir besuchten das Vereinsheim des Fußballvereins Al-Wehdat SC. Die Vorbereitungen waren dort ebenfalls in vollem Gange. Denn auch hier wird der sozialen Verantwortung Rechnung getragen und für bedürftige Kinder ein kostenloses Iftar zur Verfügung gestellt. Für viele von ihnen sollte es die einzige Mahlzeit des Tages bleiben. Man führte uns stolz durch das Museum des 17maligen jordanischen Meisters und elfmaligen Pokalsiegers. Auch Vizepräsident Walid Alsaudi ließ es sich nicht nehmen, uns kurz zu empfangen und jedem einen Wimpel des Vereins zu überreichen. Wir unterhielten uns kurz. Auf seinem Schreibtisch steht das Porträt von Königin Alia Al-Hussein. Ihr Vater war selbst Palästinenser aus Nablus; sie kam bei einem tragischen Hubschrauberabsturz 1977 ums Leben. Weder im öffentlichen Leben noch an Orten der palästinensischen Diaspora kommen wir an Jordaniens Monarchie vorbei. Es scheint wie eine mittlerweile friedliche Koexistenz unter wachsamen Augen.
Gänzlich andere Welt
Wir machten uns auf dem Weg in das Gazacamp. Zumeist kommt der soziologische Begriff der Segregation reichlich abstrakt in unseren Gefilden daher. Er bezeichnet die klare örtliche Trennung von Bevölkerungsgruppen aufgrund sozialer, ethnischer oder anderer Merkmale. Verglichen mit dem Tourismusmagnet Gerasa und den bisherigen UNRWA-Flüchtlingslagern wurde hier eine räumliche Trennung sichtbar, die uns bisher unbekannt war. Wir fuhren einige Kilometer aus Gerasa heraus und kamen, der Hauptstraße folgend, in einer Art Vorstadt an. Zuvor säumten noch grünbewachsene Hügel die Umgebung. Nun waren wir in einer gänzlich anderen Welt angelangt – das Gazacamp. Viele der Einwohner saßen am Straßenrand. Wir sahen eine Kfz-Werkstatt, einige Lebensmittelgeschäfte oder Fleischereien. Ein Großteil der Gebäude war in einem desaströsen Zustand. Walid riet uns, das Auto zu parken. Er sagte, wenn wir das Camp sehen, mit den Menschen sprechen wollten, müssten wir die Hauptstraße verlassen.
Wir liefen wenige Meter in das mittlerweile befestigte Lager hinein und wurden umgehend von einer Frau angesprochen. Walid übersetzte simultan. Die Frau erklärte unter Tränen, dass ihr das notwendige Geld fehlt, um der Familie etwas zum Iftar zu servieren. Ihrer Bitte um einige Dinar kamen wir nach. Diese Situation sollte sich noch einige Male wiederholen. Nach einigen Metern am Rand des Camps fanden wir den Zugang zur Marktstraße, der Suk. Dort gab es einige Läden, die Kleidung verkauften. Es wurden Stücke angeboten, die manchem Vintage-Sammler das Herz aufgehen lassen würden. Die Wahrheit jedoch ist, dass Kinderkleidung über viele Generationen weiterverkauft wird. Mickey-Maus-T-Shirts aus den 1990er Jahren – jeder Dinar zählt.
Wir liefen an einigen Obstständen vorbei und realisierten das erste Mal, wie die Situation in den Gebäuden ist. Walid berichtete, dass die meisten auf dem Boden schlafen müssen. Bevor wir in das Auto stiegen, sahen wir zwei Jungen am Straßenrand. Sie saßen ihre Zeit ab. Einer von ihnen leidet an einer geistigen Behinderung. Walid sagte: »Wer hier groß wird, entwickelt keine positive Sicht auf diese Welt. Wie auch? Sie steht dir feindlich gegenüber, du hast keine Perspektiven.« Im ersten Moment mag es schockieren, aber es liefert bis zu einem gewissen Grad auch die Erklärung für ein Wandbild, das wir im Camp gesehen hatten. Zu sehen war eine Karte Palästinas ohne die heutigen israelischen Gebiete. Darunter stand: »7. Oktober, Palästina« Denn auch im Gazacamp herrscht Hoffnung. Hoffnung auf die Rückkehr in die palästinensische Heimat nach Gaza. Dort, wo Israel aktuell einen Genozid verübt.
Nach dieser Erfahrung waren für uns die letzten Tage angebrochen. Zum Iftar saßen wir mit Walids Familie etwas außerhalb von Irbid zusammen. Darunter Umm Ahmed, die Frau eines Bruders. Sie stammt aus dem Flüchtlingslager Ain Al-Hilweh im Libanon. Ihr Bruder war ein beliebter Fatah-Kommandeur und wurde 2004 im Lager von Söldnern getötet. Noch heute findet man in manchen Läden sein Porträt. Im Wohnzimmer hängt eine große Gedenktafel für ihn. Umm Ahmeds Eltern wurden bei einem Luftangriff der Zionisten ermordet.
Auch wenn es ein wunderschöner Abend war, kamen wir nicht an den gemischten Gefühlen vorbei, die uns während unseres Aufenthaltes und unsere Begleiter tagtäglich begleiteten. Leben und Tod, herzhaftes Lachen und tiefe Trauer liegen hier so nah zusammen. Alle Kinder und Jugendlichen der palästinensischen Diaspora werden damit groß. Es ist ein intergenerational vererbtes Trauma. Walids Bruder Abu Islam sagte ganz zum Schluss: »Wir als Palästinenser sind Jordanien für alles dankbar, aber in Gedanken sind wir immer bei Palästina – und der Rückkehr in unsere Heimat.«
unrwa.org/where-we-work/jordan/jerash-camp
unrwa.org/where-we-work/jordan/irbid-camp
unrwa.org/where-we-work/jordan/amman-new-camp
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