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Aus: »Saigon ist frei«, Beilage der jW vom 23.04.2025
Revisionismus

Die große Täuschung

USA: Mit zehnjähriger Kampagne zur Feier des verbrecherischen Vietnamkriegs sollte Geschichte umgeschrieben werden
Von Hellmut Kapfenberger
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Kämpfer der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams werden im Westen meist abschätzig »Vietcong« genannt

In diesem Jahr endet in den USA etwas, das zehn Jahre währte und wohl kaum jemand außerhalb ihrer Grenzen je für möglich gehalten hätte. Als Vietnam am 30. April 2015 jenen Tag vor 40 Jahren feierte, an dem es mit der Befreiung von Saigon über die Vereinigten Staaten triumphierte, begann dort unter der Regie des Verteidigungsministeriums eine beispiellose Propagandakampagne zur Glorifizierung und Rechtfertigung des von den USA entfesselten bis dahin weltweit längsten und blutigsten Krieges seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Anlass dazu sah man in Washington im 50. »Jahrestag des Vietnamkriegs«. Mit diesem nicht exakt benannten Datum waren jene Tage im Februar und März 1965 gemeint, an denen sich die USA mit der Entsendung der ersten eigenen Kampftruppen nach Südvietnam und dem Beginn des jahrelangen Bombenkrieges gegen den Norden zur direkten Kriegspartei in Vietnam gemacht hatten.

US-Präsident Barack Obama hatte das »Vietnam War Commemoration« (Vietnamkriegsgedenken) schon drei Jahre zuvor angeordnet. Am 25. Mai 2012 hatte er in einer Rede den vom US-Kongress abgesegneten Entschluss für eine das ganze Land umfassende zehnjährige Kampagne mit diesem Namen verkündet. Seine Begründung: »Wenn wir den 50. Jahrestag des Vietnamkriegs begehen, dann denken wir mit feierlicher Ehrfurcht an den Heldenmut einer Generation, die ihre Pflicht in Ehren erfüllt hat. Wir gedenken der mehr als drei Millionen Männer und Frauen, die ihre Familien verließen, um mutig Dienst zu tun, fern von allem, was sie kannten und liebten. Von Da Nang bis Khe Sanh, von Hue bis Saigon und in den unzähligen Dörfern dazwischen kämpften sie sich durch Dschungel und Reisfelder, Hitze und Monsunregen, um die Ideale zu verteidigen, die wir hier als Amerikaner hochhalten. In mehr als einem Jahrzehnt des Kampfes, in der Luft, an Land und auf See repräsentierten diese stolzen Amerikaner die edelsten Traditionen unserer Streitkräfte.«

Pentagon leitet »Gedenken«

Der Chef des Pentagons wurde »ermächtigt, ein Programm zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Vietnamkriegs zu leiten«, informierte das Ministerium im Internet. »Bei der Leitung des Gedenkprogramms soll der Minister andere Programme und Aktivitäten der Bundesregierung, der Bundesstaaten- und Lokalregierungen sowie anderer Personen und Organisationen koordinieren, unterstützen und befördern.« Das Programm solle den US-Amerikanern helfen, »den Dienst unserer Vietnamkriegsveteranen und die Geschichte des US-Engagements im Vietnamkrieg besser zu verstehen und zu würdigen«.

Die 2015 dekretierte programmatische Vorgabe wurde mit enormem Aufwand in die Tat umgesetzt: Von traditionell-schwülstigem Patriotismus à la USA geprägt, hatten alle Bundesstaaten in all den Jahren Kundgebungen, Versammlungen, Ausstellungen, Veteranenaufmärsche, Filmvorführungen, feierliche Kranzniederlegungen und vielerlei andere Aktivitäten zu organisieren, begleitet vom Trommelfeuer der Medienwelt. Das Pentagon betrieb eine stetig aktualisierte, umfangreiche Internetpräsentation. Als Ziele der Kampagne postulierte man:

»1. den Veteranen des Vietnamkriegs für ihren Dienst und ihre Opfer zu danken und sie zu ehren sowie ihren Familien Dank zu sagen und Ehre zu erweisen;

2. den Dienst der Streitkräfte während des Vietnamkrieges sowie den Beitrag der Bundesbehörden, von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die mit den Streitkräften dienten oder sie unterstützten, besonders hervorzuheben;

3. den Beiträgen Anerkennung zu zollen, die das Volk der USA während des Vietnamkriegs an der Heimatfront geleistet hat;

4. die mit während des Vietnamkrieges durchgeführter militärischer Forschung verbundenen Fortschritte in Technik, Wissenschaft und Medizin hervorzuheben;

5. die Beiträge und Opfer anzuerkennen, die von den Verbündeten der USA während des Vietnamkriegs erbracht wurden.«

Mobilisiert wurden Tausende militärische und zivile institutionelle »Commemorative-Partner«, denen ein Aktionsprogramm vorgegeben wurde. Die Gouverneure aller 50 Bundesstaaten gingen mit Auftakterklärungen voran. Auch die Jüngsten blieben nicht verschont. Schulen wurden »ermuntert, Commemorative-Partner zu werden, um Dienst, Tapferkeit und Opfer der Vietnamkriegsveteranen ihres Heimatortes wertzuschätzen«, las man. Im ganzen Land schossen »Chapter« (Ortsgruppen) der Kampagne aus dem Boden. Eine mit Markierungen übersäte Karte zeigt, dass auch das Ausland einbezogen wurde; weltweit überall dort, wo sich US-Militär aufhält, auch in Deutschland.

Lügen statt »Fakten«

Im Netz angeboten wurde der Blick auf Primärquellen wie Präsidentenmemos, Verträge und Telegramme des Außenministeriums. Umfangreichster Bestandteil der Website vietnamwar50th.com ist eine interaktive Zeittafel, die von 1945 bis 1975 reicht. Zu ihren etwa 500 Einträgen über Truppenbewegungen, Kriegsverlauf, Auszeichnungen von Militärs, Vorgänge in den USA und anderes gehören drastische Beispiele der Geschichtsklitterung, so zum »Zwischenfall im Golf von Tonkin« im August 1964 und zum Massaker an 504 wehrlosen Greisen, Frauen und Kindern am 16. März 1968 in der Gemeinde Son My (My Lai) in der südlichen Küstenprovinz Quang Ngai.

Über Beginn und Verlauf des Vietnameinsatzes von Army (1954–1973), Air Force, Navy (ab 1950), Marine Corps und Coast Guard (ab 1965) wurde in verharmlosender und verlogener Art in »Fact Sheets« – straffen Abhandlungen – informiert. Das über die Army beginnt gleich mit der alten Lüge, die Genfer Indochinaabkommen von 1954 hätten Vietnam »in einen kommunistischen Staat im Norden und einen antikommunistischen Staat im Süden geteilt«. Der Air Force, die einen »hervorragenden Beitrag« im Krieg geleistet habe, wurde attestiert, beispielsweise 1972 mit mehr als 150.000 Tonnen Bomben in Nordvietnam »zumeist Ziele des Verkehrswesens, Flugplätze, Kraftwerke und Funkstationen« attackiert zu haben. Jeder, der seinerzeit den monatelangen Bombenterror erlebte, so auch der Autor, weiß um die Ungeheuerlichkeit dieser Lüge.

Diese Kampagne, die offiziell im November enden soll, war keine plötzliche Eingebung des Friedensnobelpreisträgers Obama. Sie darf wohl als Krönung dessen gewertet werden, was Washington mindestens seit Ende des Krieges versuchte: sich mit allen Mitteln reinzuwaschen und die gewaltigen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen. Wesentlichen Anteil daran hatten Hollywood-Vietnamkriegsfilme. »Hamburger Hill«, »Die durch die Hölle gehen«, »Wir waren Helden«, »Die grünen Teufel«, »Die letzte Schlacht« und andere mögen exemplarisch dafür stehen. Auch Filme, in denen leise Kritik an Sinn und Zweck des Blutvergießens oder daran anklang, wie GIs von skrupellosen Vorgesetzten in den sicheren Tod getrieben wurden, waren von diesem Revisionismus nicht frei.

Hellmut Kapfenberger war zwischen 1970 und 1973 Korrespondent von ADN und Neues Deutschland in Hanoi und ist Autor von »Vietnam 1972. Ein Land unter Bomben. Mit Notizbuch und Kamera im Norden unterwegs«, das 2023 im Verlag Wiljo Heinen erschienen ist

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