Gegründet 1947 Mittwoch, 30. April 2025, Nr. 100
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Aus: 30 Jahre Verlag 8. Mai, Beilage der jW vom 09.04.2025
30 Jahre Verlag 8. Mai

Intelligente Gesellschaft

Die junge Welt hat oft andere Themen und zumeist andere Autorinnen und Autoren als die etablierten Medien. Das macht sie offenbar lesenswert
Von Arnold Schölzel
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Dass die Linke tot sei, gehört zu den Behauptungen, mit denen der verordnete Antikommunismus der BRD seit deren Gründung 1949 hausieren geht. Aber es ist mit der Linken wie gegenwärtig mit dem neuen Erzfeind Russland: Angeblich toter Hund, andererseits greift sie/er demnächst an, ist kreuzgefährlich. Aus der Sicht dieses Staates steht der Feind links, Rechte zählen Polizei und Geheimdienste seit jeher zur »Familie«. Fangen die an, übermäßig zu morden, wird das vertuscht, bis die Schredder glühen. BND und Verfassungsschutz oder auch der Spiegel waren personell Fortsetzungen des Reichssicherheitshauptamtes und seiner Propagandaabteilung unter neuem Etikett. Mit FDJ- und KPD-Verbot wurde nachgeholfen. Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, Berufsverbote, Wehrsportgruppen, Brandanschläge auf Ausländerunterkünfte seit den 80ern, ungezählte, in die Tausende gehende »Einzelfälle« von Gewalt gegen Flüchtlinge, NSU. Und das Neuste: Beate Zschäpe ruft auf ihrer Flucht zwölfmal nach dem Thüringer Innenministerium und dessen Verfassungsschutz. Sowie: Beim Verbrennen von bulgarischen Bewohnern in einer Unterkunft in Solingen vor einem Jahr sah die Polizei keinen Hinweis auf Neonazismus. Der Täter hatte lediglich einschlägige Literatur zu Hause. Wer jahrzehntelang so gründlich »versagt«, muss folgerichtig einer Tageszeitung wie der jungen Welt den ständig bevorstehenden Tod androhen. Das Bundesinnenministerium will Sterbehilfe durch seine Gesinnungspolizei und dessen mittelalterlichen Pranger leisten. Im Jargon heißt das: »den Nährboden entziehen«. Förderung von Neonazis und Niedermachen linker Opposition sind zwei Seiten ein und desselben Staatsapparates.

So geht das seit 76 Jahren und kostet Jahr für Jahr Menschenleben, manchmal auch die Existenz einer Zeitung oder Zeitschrift. Gegenwärtig haben die Nazimörder und -schläger endlich eine eigene erfolgreiche Partei, die mit rund 40 Millionen Euro Vermögen eine der reichsten des Landes ist und sich Trupps kaufen kann. Kürzlich meldete Bild, die Goldschenkung eines Klospülungsunternehmers sei jetzt überprüft und bringe der AfD weitere 14 Millionen Euro. Das deutsche Bürgertum lässt sich nicht lumpen, wenn es um sein politisches Lumpenpack geht. Das redet vorläufig von »Remigration«, das Totsagen und Totmachen von Linken ist sein wirkliches Geschäft, weil im Sinne der Herrschenden.

Der Versuch von 1995, die junge Welt zu liquidieren, war so gesehen ein normaler Teil der normalen BRD-Geschichte. Als die Zeitung 1994 von sozialliberaler Staatsfrömmigkeit zu einer »endlich linken Tageszeitung« wurde, sich nicht mit »Tagesschau«-Geplapper begnügte, sondern sich für die soziale, also die Klassenfrage und damit in der Außenpolitik für Krieg und Gegenkrieg interessierte, sollte ihr Schicksal relativ schnell besiegelt werden. Das misslang, weil die Totsager keinen blassen Schimmer von der damaligen Stammleserschaft im Osten und ihrem Bildungsgrad hatten, vor allem aber den Osten insgesamt für rückständig, intellektuell minderbemittelt und soziale Probleme für überholt und irrelevant hielten. Und Kriege? Viele – auch in der jW-Redaktion jener Zeit – sahen in ihnen nach 1990 völlig »neue«, wie sie der Politikprofessor Herfried Münkler etwas später nennen sollte: asymmetrische Scharmützel, weltpolitisch nicht der Rede wert. Wie im Fall des Irak seien sie gegen islamische, also per se antisemitische Nationen, gegen blutige Diktatoren und Terrorgruppen, die dem Sponsor USA irgendwie aus dem Ruder gelaufen waren, gerichtet. Schnell erledigt, keine große Sache, schon gar nichts für größere Berichterstattung. Es herrschte Vorkriegszeit.

Themenwahl

Diese »Uns geht es doch gut, was habt ihr aufgeregten Sektierer eigentlich?«-Treuherzigkeit ist das Einschlafmittel, das seit dem DDR-Anschluss 1990 den Bundesdeutschen von Politik, Medien und Hochschulen verabreicht wird. Wer die Linke totschweigen und totmachen will, darf von Eigentums- und Machtverhältnissen nicht reden. Von Zeit zu Zeit beschweren sich so in den politischen Schlaf Versetzte auch bei der jungen Welt. Sie möchten in der Tageszeitung mehr über Chemtrails lesen oder über den großen Merkel-Gates-Soros-etc.-Plan, die europäische Bevölkerung gegen Afrikaner und Asiaten auszutauschen, oder darüber, dass es nie ein Coronavirus, sondern nur eine Verschwörung gab. An der müssen sich demnach die KP Kubas, die KP Chinas, Wladimir Putin, das Robert-Koch-Institut, die Pharmakonzerne und alle übrigen Schurken bis hin zu Karl Lauterbach mit Tötung durch Impfen beteiligt haben. Neben dem faschistischen gehört der allgemeine Irrationalismus zu den Begleiterscheinungen des Niedergangs im Imperialismus. Wer keine funktionierende Eisenbahn oder ein Gesundheitswesen, das sich um Patienten statt um Profit kümmert, zustande bringt, braucht Kundschaft, die resigniert oder den Urheber des Ungemachs überall sucht, nur nicht dort, wo er seinen Reichtum vermehrt.

Das war 1995 nicht anders, als die junge Welt von ihrem angeblich wohlmeinenden Besitzer, einem heute zum BSW mäanderten Westberliner Verleger, für Pleite erklärte wurde. Der Aberglaube an die nächsten 1.000 Jahre kapitalistischer Stabilität stand nach dem Ende des realen Sozialismus auch in großen Teilen der Linken in schönster Blüte. Die tatsächliche Lage wies zwar Unpassendes auf – Massenarbeitslosigkeit im Osten etwa oder eine »Koalition der Willigen« im Irak – aber an ein mit den USA konkurrierendes China, an allgemeine Unbotmäßigkeit des globalen Südens war nicht zu denken. Wer sich den Kreditregeln des IWF, also Washingtons, widersetzte, wurde in Hinrichtungskriegen fertiggemacht. Menschenleben hatten für westliche Eroberer in Kolonialkriegen noch nie gezählt. Völkerrecht spielte erst recht keine Rolle, und in diesem Zeichen lief auch die Ostexpansion der NATO an. Die USA hätten der Sowjetunion 1990 versprochen, »keinen Zoll nach Osten«? Hatte es offiziell nie gegeben und insbesondere Russland nichts zu sagen. Das glauben Scholz und Baerbock bis heute.

Was 1995 geschah

Die wirkliche Lage war 1995: Nach dem »Begrüßungskrieg« (Volker Braun) für Ostdeutsche, dem mit den üblichen Washingtoner Propagandalügen (»Babys in Kuwait aus Brutkästen gerissen«) angezettelten Krieg im Irak, herrschte dort eine durch Sanktionen und westliche Bomben hergestellte Hölle, die am 12. Mai 1996 die US-TV-Moderatorin Lesley Stahl veranlasste, die damalige UN-Botschafterin der USA Madeleine Albright zu fragen: »Wir haben gehört, dass eine halbe Million Kinder gestorben sind – das sind mehr Kinder, als in Hiroshima starben. Ist es diesen Preis wert?« Ihre Antwort lautete: »Es ist diesen Preis wert.« Albright erwies sich drei Jahre später als US-Außenministerin gemeinsam mit dem damaligen deutschen Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) beim Herbeilügen des NATO-Angriffs auf Jugoslawien als die Kriegsverbrecherin, die sie bereits war. Folgerichtig, dass bei Albrights Tod 2022 Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) twitterte: »Auch ich stehe heute auf ihren Schultern.«

1995 war das Jahr, in dem nicht nur die junge Welt samt Verlag 8. Mai neu entstand, sondern auch das Marxistische Forum innerhalb der PDS gegründet wurde. Erste Sprecher waren der Rechtswissenschaftler und PDS-Bundestagsabgeordnete Uwe-Jens Heuer (1927–2011), der Historiker und jW-Autor Kurt Pätzold (1930–2016), später der frühere stellvertretende DDR-Kulturminister und damalige PDS-Landtagsabgeordnete in Thüringen Klaus Höpcke (1933–2023), ebenfalls gelegentlicher jW-Autor. Der Autor dieses Textes gehörte zu den Gründern. Der Grund für den Zusammenschluss wurde für die junge Welt wichtig: Er lag in der damals deutlicher werdenden Tendenz der PDS-Spitze, sich vom Marxismus und den Traditionen der Arbeiterbewegung, vor allem denen der DDR, nicht nur insgeheim, sondern ganz offiziell zu verabschieden und mit Kapitalismus und Krieg als rechtssozialdemokratische Partei ein Auskommen zu finden. Diese Debatten dauern bekanntlich in der heutigen Partei Die Linke immer noch an, entschieden wurden sie durch die Parteiführung allerdings für sich schon damals. Die Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei, der (schwache) Widerstand aus der Mitgliedschaft wurden nicht selten exklusiv durch die junge Welt dargestellt. Allerdings scheint dieser Diskussionsprozess insbesondere zur Frage von Krieg und Frieden nun seinem endgültigen Ende zuzustreben: Bereits 2022 war die Mehrheit der Bundestagsfraktion bereit, dem »Zeitenwende«-Aufrüstungsprogramm zuzustimmen und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden. Den Grundgesetzänderungen zur Entgrenzung der Rüstungsausgaben stimmten die Landesregierungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, in denen Die Linke vertreten ist, im März 2025 entgegen allen Parteibeschlüssen zu – ohne nennenswerten Protest.

Diese Abwicklung der PDS/Die Linke in der Friedensfrage war ein quälend langer Prozess, die Partei Bündnis 90/Die Grünen vollzog den Übergang vom angeblichen Pazifismus zur wildesten deutschen Kriegspartei im Vergleich dazu mit Lichtgeschwindigkeit. Ihre Mitglieder und Sympathisanten fielen für die junge Welt als mögliche Leser innerhalb kurzer Zeit aus. Zwar beschloss die Partei 1995 auf einem Parteitag, bei einer Regierungsbeteiligung aus der NATO auszutreten. Auf die Taz-Frage, was er davon halte, antwortete der Konkret-Herausgeber Hermann Gremliza damals: »Vor den Grünen treten die USA aus der NATO aus.« Gremliza konnte nicht ahnen, dass das 2025 zumindest rhetorisch eintreten würde. Im NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 stellte die Partei, wie eben erwähnt, bereits den Außenminister, der mit »Auschwitz verhindern« dem Feldzug einen antifaschistischen Anstrich gab – ein Vorbild für viele weitere Kriege.

Einschnitt Jugoslawien-Krieg

Diese drei genannten Themenkreise – die Kolonialkriege des Westens, die Auseinandersetzungen um die Friedensfrage innerhalb der PDS/Die Linke und die Rolle von Bündnis 90/Die Grünen bei der Beseitigung der Friedensbewegung in der BRD – bestimmten neben sozialen Fragen – hier sei nur das Stichwort »Agenda 2010« der »rot-grünen« Koalition unter Gerhard Schröder genannt – in den vergangenen 30 Jahren das Profil der jungen Welt.

Der NATO-Krieg von 1999 war dabei für die Zeitung ein Einschnitt. Vor dem Angriff und während des Krieges stand die junge Welt zum ersten Mal gegen das gesamte Medienestablishment der Bundesrepublik. Das sollte sich jedoch wiederholen, die Kriege häuften sich: Afghanistan 2001 bis 2021, Irak 2003 bis heute, Libyen 2011 und die daraus folgende Bundeswehrstationierung von 2013 bis 2023 in Westafrika, um für Frankreich die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Außerdem der vom Westen mit Waffen und Dschihadisten angeheizte Bürgerkrieg in Syrien ab 2011 bis heute, erst recht aber der Putsch in Kiew 2014, der Krieg der Putschisten gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass und das Eingreifen Russlands in diesen Krieg 2022. Heute, da dessen Charakter offenliegt – er ist ein Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland –, tut die Bundesregierung im Verbund mit EU und den NATO-Mitgliedern außer den USA alles dafür, eine Verhandlungslösung zu verhindern. Zusammengenommen: In diesen 26 Jahren hat sich die Position dieser Zeitung bestätigt.

Das führt an Gegeninformation Interessierte immer wieder neu zu ihr, schafft aber auch Feinde – vornweg der Staat und andere ideologische Institutionen des deutschen Imperialismus. Diese hartnäckig beibehaltene Position ruft aber auch immer wieder Unverständnis und Kontroversen in der eigenen Leserschaft hervor: Die nüchterne Beschreibung des Krieges von 1999 als eines gezielt herbeigeführten NATO-Angriffskrieges wurde von nicht wenigen mit einer Parteinahme für den »Schlächter vom Amselfeld« verwechselt. Die Opposition gegen die deutsche Teilnahme in »uneingeschränkter Solidarität« (Gerhard Schröder) mit den USA nach dem 11. September 2001 am Afghanistan-Krieg wurde als Antiamerikanismus begriffen. Die jW-Analyse der mehrfachen Kriege Israels in Gaza gerät regelmäßig unter Antisemitismusverdacht. Das setzte sich fort bis dahin, dass die Untersuchung des politischen Ziels der russischen Attacke auf die Ukraine 2022 als Unterstützung gewertet wurde. Aber, wie oben gesagt: In allen diesen Kriegen hat sich die Darstellung der Fakten durch diese Zeitung, nicht die Propaganda der etablierten Medien bestätigt. Nicht alle Analysen waren irrtumsfrei, aber die konstante Grundposition ist die Erklärung dafür, dass es eine Tageszeitung wie diese in diesem Land gibt. Weil sie von vielen gelesen oder abonniert wird, die den Mainstream nicht mehr ertragen. Was einschließt, dass die Versuche, die junge Welt mundtot zu machen oder ganz zu beseitigen, in dem Maße zunehmen, in dem sich die sozialen Gegensätze zuspitzen, Staat und Gesellschaft »kriegstüchtig« gemacht werden sollen.

Propaganda oder Aufklärung

In der Geschichte der Bundesrepublik hat es verschiedene Versuche gegeben, eine parteiunabhängige, linke Zeitung – meist als Wochenzeitung – zu gründen. Sie haben nie lange durchhalten können. Eine Tageszeitung wie die junge Welt blieb bislang die Ausnahme. Dass sie 30 Jahre nach dem Wiedererscheinen am 13. April 1995 existiert, hat sie in erster Linie ihren Lesern und der Zähigkeit ihrer Redakteure und Autoren zu verdanken. Unter letzteren sind zahlreiche Wissenschaftler und Publizisten verschiedener politischer Richtungen, die woanders nicht mehr veröffentlichen können oder wollen. Die junge Welt ist so auch ein Angebot an jene, die über den Tag hinaus schreiben und die deutsche und internationale Geschichte aus einer anderen Perspektive als der triumphalen Selbstgewissheit sehen. Die Zahl der daran Interessierten nimmt zu, nicht ab.

Der Publizist und Gründer der Zeitschrift Ossietzky, Eckart Spoo (1936–2016), beschrieb bereits 2002 in der jungen Welt diese Tatsache so: »Die junge Welt und die landesübliche Konzernpresse – das ist wie Feuer und Wasser oder wie Tag und Nacht. Nein, diese Vergleiche sind zu harmlos. Die landesübliche Konzernpresse und die junge Welt – das ist Krieg und Frieden, Propaganda und Aufklärung. Kurz: Es ist ein Gegensatz durch und durch, unvereinbar. (Falls aber in der jW doch einmal etwas steht, was genauso gut in der landesüblichen Konzernpresse stehen könnte, dann hat die Redaktion ausnahmsweise nicht aufgepasst.) ... Gerade auch deswegen lese ich sie gern: Weil sie mit ihrem aufklärerischen Widerspruchsgeist Freude am Selberdenken weckt und stärkt. Und eben deswegen empfehle ich sie allen Kollegen, Freunden, Bekannten. Denn Ossietzky erscheint ja nur alle 14 Tage. Zwischendurch muss man jW lesen. Wenn man sich in intelligenter Gesellschaft befinden möchte.«

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