Druck von links
Von Dietmar Koschmieder
Jetzt muss es schnell gehen. Noch vor Arbeitsantritt haben die Kolleginnen und Kollegen über das Radio vernommen, dass die Tageszeitung junge Welt nach 48 Jahren eingestellt und an diesem 5. April 1995 die letzte Ausgabe der Zeitung produziert werden soll. Die Stimmung in Verlag und Redaktion ist niedergeschlagen. Dieses Ende war absehbar, die meisten packen nach der Tagesproduktion resigniert ihre Sachen. Der damalige Mentor und Macher der Zeitung, der Hamburger Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza, erklärt ihr Ende in einem Interview, das er für diese Ausgabe mit sich selbst geführt hatte, so: »Zum eisernen Bestand des linken Geredes gehört die Klage über das Monopol der Bürgerpresse und dass abweichende Meinung und Information keine Chance auf Öffentlichkeit hätten. Die neue junge Welt (…) hat der Linken dieses Landes die Chance gegeben. Ihr Misserfolg lässt nur den Schluss zu: Entweder gibt es eine zahlenmäßig nennenswerte Linke nicht mehr oder sie zieht das Klagen über miese Verhältnisse dem Handeln zu deren Veränderung vor.« Der Autor dieses Berichts (damals Betriebsratsvorsitzender der Zeitung), widersprach Gremliza gleich darunter: Es hebe jetzt ein großes Jammern darüber an, »ob denn die dummen Leser das tolle Produkt nicht wollen. Ich sehe das andersrum, dass man dieses Produkt, für das es garantiert einen Markt gibt, (…) den Lesern nahebringen muss«. So, wie die junge Welt in den vergangenen Monaten entwickelt wurde, sei sie »ein neuartiges Produkt, das nicht durch ein anderes ersetzt werden kann (…) Wir halten die junge Welt in der heutigen rechtskonservativ dominierten Presselandschaft für unverzichtbar und werden darum kämpfen.«
Kartoffeln unter Druck
Die Mehrheit in Verlag und Redaktion sah das zunächst anders. So amüsierte sich der damalige Chefredakteur Oliver Tolmein in der (vermeintlichen) Abschiedsnummer über die Vorstellung, die Zeitung weiterführen zu können, unter der Überschrift »Das letzte: Kartoffeln unter Druck« folgendermaßen: »Letzte Überlegungen, wie die junge Welt durch Sparmaßnahmen zu retten sein könnte, haben sich gestern abend zerschlagen. Die von einigen MitarbeiterInnen in der Redaktion und der Gestaltungsabteilung angepeilte Umstellung der Zeitung auf Kartoffeldruck erwies sich angesichts der boomenden Entwicklung auf dem ostdeutschen Nahrungsmittelmarkt als illusorisch.« Als der Betriebsratsvorsitzende dann später in einer Belegschaftsversammlung seine inhaltlichen und ökonomischen Weiterführungspläne zur Abstimmung stellt, werden sie von einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt.
Trotzdem erscheint nur sieben Tage später, am 13. April 1995, die junge Welt mit einer Mutausgabe wieder auf dem Markt, gefolgt von einer zweiten zum Ostersamstag 1995. »Unglaublich! Osterwunder in der Redaktion der jungen Welt. Honecker-Portrait bricht in Tränen aus!« heißt es auf der Aktionsseite der Zeitung. Ab dem 18. April ist die Zeitung dann wieder werktäglich mit 16 Seiten im Briefkasten und am Kiosk zu finden. 704 jW-Abos werden in diesen Tagen bestellt. Das Konzept soll ein Überleben für wenigstens drei Monate sichern. Daraus sind mittlerweile 30 Jahre geworden. Und die verkaufte Auflage ist heute höher als zum Zeitpunkt der Gründung des Verlags: Vergleichbares gibt es bei keiner anderen überregionalen Tageszeitung.
Dieser Erfolg ist auf viele Faktoren zurückzuführen: An erster Stelle steht die Erkenntnis, dass es für ein journalistisches Produkt, das sich der Aufklärung verschreibt und in der redaktionellen Arbeit die Existenz von Klassen, Klasseninteressen und Klassenkämpfen nicht ignoriert, auch im Kapitalismus eine Nachfrage gibt. Zweitens muss aber auf dieses journalistische Angebot mit immer neuen Ideen aufmerksam gemacht werden, denn von allein verkauft sich so eine Zeitung nicht. Beide Faktoren müssen gegen diverse Widerstände von außen wie innen immer wieder durchgesetzt werden. So will der deutsche Staat dieser Zeitung seit 1998 ganz offiziell wegen ihrer marxistischen Orientierung den Nährboden entziehen.
Lenin mit Narrenkappe
Erinnert sei aber auch an interne Auseinandersetzungen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion ein Jahr zuvor, die sich über die marxistische Orientierung der Zeitung lustig machten: Zum 50. Jahrestag der Gründung der jungen Welt am 7. Februar 1997 hievten sie einen Lenin mit Narrenkappe auf die Titelseite. Es folgte der Versuch einer Fraktion um Jürgen Elsässer und Klaus Behnken, aus der jungen Welt eine Jungle World zu machen. Als das am Widerstand der Belegschaftsmehrheit scheiterte, kam es zur Spaltung. Dass diese Klärung der inhaltlichen Linie überlebensnotwendig war, zeigte sich spätestens zwei Jahre später: Als 1999 mit einem Angriff auf Jugoslawien Deutschland sich erstmals ganz offiziell wieder an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg seit 1945 beteiligte, bezog die junge Welt einen konsequent antimilitaristischen Kurs. Die Jungle World hingegen reihte sich in die große Einheitsfront der Kriegsbefürworter unter den Medien ein. Weitere Klärungsprozesse folgten – und sie sind bis heute nicht abgeschlossen: Die klassenkämpferische Position der Zeitung, also eine konsequente Haltung gegen Krieg, für internationale Solidarität, gegen den Abbau demokratischer und sozialer Rechte und gegen die faschistische Restauration als letzte Chance imperialistischer Machtansprüche muss immer wieder erarbeitet und verteidigt werden. Diese Traditionslinien gehören zum Erbe dieser Zeitung seit ihrer Gründung im Jahre 1947.
Aber es bedarf eben nicht nur einer klaren politischen Linie und deren guter handwerklicher Umsetzung, die das journalistische Produkt junge Welt erfolgreich macht. Nur wenn so eine Zeitung auch hinlänglich bekannt ist, gelesen wird und in der Diskussion steht, gewinnt sie Einfluss, entfaltet Wirkmächtigkeit und kann sich über die verkaufte Auflage auch finanzieren. Allerdings muss jeder mit erheblichem Gegenwind rechnen, der in der journalistischen Arbeit davon ausgeht, dass die Interessen der Kapitalvertreter keineswegs die der arbeitenden Menschen sind. Solange eine Zeitung mit marxistischem Ansatz sich als kleines Nischenprodukt durchschlägt, duldet der bürgerliche Staat so ein Produkt vielleicht noch, nutzt es gar als Beleg für eine bestehende Freiheit und Liberalität (der CDU-Sozialminister Norbert Blüm ließ es sich nicht nehmen, mehrfach über seinen Werbeetat auch Anzeigen in der jungen Welt zu finanzieren).
Einflussreichstes Medium
Es bedurfte dann schon einer »rot-grünen« Koalition, um der jungen Welt einen Platz im Verfassungsschutzbericht zu sichern. Seit vielen Jahren wird darin der Zeitung bis heute vorgeworfen, dass sie »das einflussreichste Medium im Linksextremismus« sei. Als die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke 2021 dann im Bundestag nachfragte, weshalb die junge Welt als einzige Tageszeitung im Lande solche Aufmerksamkeit durch den Inlandsgeheimdienst erfährt, war die Antwort erstaunlich offen: Die Zeitung wolle in den Meinungsbildungsprozess eingreifen, vertrete in zu vielen Punkten eine nicht genehme Position und sei, besonders schwerwiegend, damit auch noch erfolgreich. Deshalb sei der Zeitung »der Nährboden zu entziehen«.
Solcher Aufwand war nicht immer notwendig. Von 1990 bis April 1994 machte sich die junge Welt von selbst überflüssig, weil sie krampfhaft versuchte, sich an neue gesellschaftliche, also kapitalistische Verhältnisse anzupassen (etwa mit einer vielteiligen Serie »Wie werde ich Jungunternehmer«). Im Ergebnis verlor die jW dramatisch an Auflage: So eine Zeitung wurde schon deshalb nicht gebraucht, weil es davon genug gab. 1994 erfolgte ein Relaunch, der die Zeitung mit einem klaren antikapitalistischen Kurs inhaltlich neu aufstellte (»Endlich eine linke Tageszeitung!«). Die damaligen Eigentümer waren aber nicht bereit, für das neue Produkt ausreichend Werbemittel zur Verfügung zu stellen (eine hübsche Yacht in der Karibik war ihnen wichtiger). Im April 1995, als keine müde Mark mehr aus der Zeitung heraus zu pressen schien, verordneten sie das Ende der Zeitung von oben. Es folgte innerhalb weniger Tage der Neustart von unten mit der Verlag 8. Mai GmbH, seither wird nicht nur das inhaltliche Konzept (angelehnt an die Gründungsideen der Zeitung noch vor der Gründung der DDR) konsequent herausgearbeitet, sondern auch eine ausgefallene Marketingstrategie entwickelt, mit der – trotz aller Widerstände – ein ausreichend großer Marktanteil erkämpft werden konnte.
Rückhalt Genossenschaft
Für diesen Erfolg sind drei weitere Faktoren zu benennen: Zum einen ist da die Genossenschaft LPG junge Welt eG. Bis mit einer guten Zeitung und einer ausgefeilten Werbestrategie so viele Zeitungen verkauft werden können, um mit den daraus erzielten Erlösen die Kosten für Produktion und Vertrieb zu finanzieren, dauert es eine Weile. Ganz am Anfang vor nunmehr 30 Jahren gab es gute Ideen, aber keinen Investor, der wenigstens ein bescheidenes Startkapital hätte geben wollen. Es war der Autor dieser Zeilen, der den Betrag zur Gründung der Verlags-GmbH zur Verfügung stellte. Zwar gab es einen südbadischen Kommunisten, der damals als Berater zur Verfügung stand und sich auch durchaus bereit zeigte, im Bedarfsfall mit einem Kredit zu helfen. Dazu kam es aber nie. Auch der Versuch, beim damaligen PDS-Schatzmeister Dietmar Bartsch einen Kredit in Höhe von 60.000 D-Mark zu erhalten, scheiterte. So kam es, dass die Verlag 8. Mai GmbH in den ersten zwölf Jahren nur mit Hilfe von Krediten der Genossenschaft LPG junge Welt eG überleben konnte: Fehlbeträge wurden ausgeglichen, Kredite gewährt, die Liquidität wurde gesichert. Erst 2017 war es soweit, dass die Verlag 8. Mai GmbH die laufenden Geschäfte weitgehend aus eigenen Einnahmen finanzieren konnte. Womit die Genossenschaft aber keineswegs überflüssig wurde: Sie ermöglicht bis heute die Finanzierung größerer Investitionen, hilft auch weiter bei Liquiditätsengpässen. Großprojekte wie die jährliche Rosa-Luxemburg-Konferenz sind ohne finanzielle Unterstützung durch die Genossenschaft nicht mehr durchführbar. Vor allem aber sorgt sie dafür, dass die junge Welt weder von Banken noch von anderen Institutionen erpressbar ist; Versuche dieser Art konnten immer dank des Rückhalts der Genossenschaft zurückgewiesen werden.
Selber tun!
Ein weiterer Faktor für den Erfolg der Zeitung ist das außergewöhnliche Engagement ihrer Leserinnen und Leser, aber auch der Macherinnen und Macher der Zeitung selbst. Niemand macht hier einfach nur einen Job. Den meisten ist es bewusst und sehr wichtig, dass sie wesentliche Lebensarbeitszeit für die Herstellung und Verbreitung eines sinnvollen und dringend benötigten Produkts einsetzen. Und einem sehr großen Anteil unter den Leserinnen und Lesern ist klar, dass diese Zeitung mit den bescheidenen ökonomischen Mitteln ohne ihre aktive Unterstützung keine Chance hätte. Ein Beispiel: Die Auswertung der Frühjahrsprobeabokampagne 2024 ergab, dass mehr als 16 Prozent der Bezieher eines Probeabonnements danach auf ein bezahltes Abo umgestiegen sind (bei anderen Tageszeitungen spielt sich das im Promillebereich ab). Von ihnen gab die Mehrheit an, dass sie über persönliche Empfehlung auf das Angebot gestoßen sei. Ein weiteres Beispiel: Die Ausgabe der jungen Welt, die jeweils zum 1. Mai erscheint, wird zigtausendfach in mehr als 150 Orten im deutschsprachigen Raum verteilt. Das übernimmt bei der jungen Welt keine Dienstleistungsagentur, sondern erfolgt ausschließlich über Leserinnen und Leser der Zeitung. Spätestens seit den Angriffen von Regierung und Inlandsgeheimdienst auf ihre Zeitung steht fest, dass deren beabsichtigtes Ziel, die Zeitung kleinzuhalten und ihr den Nährboden zu entziehen, ins genaue Gegenteil verkehrt werden muss: Nur wenn der Nährboden ständig erweitert wird, kann die junge Welt überleben.
Kollektive Kreativität
Ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg der vergangenen dreißig Jahre ist die produktive Kreativität, die durch dieses Zusammenwirken von Mitarbeitenden und Lesenden entsteht. Dieser vor 30 Jahren gegründete Verlag und sein Umfeld schreibt seither jeden Tag ein Stück Zeitungs- und Kulturgeschichte – aber eben nicht nur mit der jungen Welt. Da ist die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz zu nennen, die Künstlerkonferenz, viele Veranstaltungsreihen, Konzerte und Ausstellungen in der jW-Maigalerie, Broschüren und Beilagen zu Schwerpunktthemen und außergewöhnliche Buchproduktionen, das großartige Degenhardt-Konzert im Berliner Ensemble, die Herausgabe der Zeitschrift für Gegenkultur Melodie & Rhythmus, die Organisation des deutschen Auftritts auf der Buchmesse in Havanna nach dem Boykott durch die Schröder-Regierung, der letzte Auftritt des Komponisten Daniel Viglietti in Europa, die Vertreibung der Bundeswehr von den Buchmessen in Frankfurt (Main) und Leipzig, um nur einige Beispiele zu nennen. Neu hinzugekommen ist die Stiftung des Rosa-Luxemburg-Preises für hervorragende Verdienste, der erstmals am 12. April 2025 anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung der Verlag 8. Mai GmbH an den Schauspieler und Aktivisten Rolf Becker vergeben wird.
Diese Vielfalt in der Aktion trägt dazu bei, dass die junge Welt nicht totgeschwiegen werden kann, dass sie Kraftquell für all jene bleibt, die weiter an der Veränderung dieser Welt arbeiten wollen. Und dass der Nährboden nicht nur für diese Zeitung gestärkt wird, sondern auch der für eine Welt ohne Kriege, ohne Ausbeutung und Sozialabbau, für eine Welt des Friedens und der internationalen Solidarität. Dafür werden wir mit all unseren Möglichkeiten (und denen, die noch zu schaffen sind) weiter wirken.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Grafik: Thomas J. Richter [M]26.10.2024
Die Basis verbreitern
- Po-Ming Cheung08.05.2021
Doppelte Standards
- Th. J. Richter/jW10.08.2019
junge Welt hält Kurs