Bittners Sweet Symphony
Von Felix Bartels
In der Frage, wie man schreiben soll, steckt die, wie zu leben geht. Kein Autor vermag Haltung zu fingieren. Nur was eingenommen wurde, kann sich im Stil widerspiegeln, kann mehr als den Eindruck gepresster Selbstüberredung machen. Was der Autor nun einnimmt, muss er zuvor verinnerlicht haben. Ein Teil davon mag in ihm bereits angelegt sein, den größeren Anteil hat Training. Die übliche Beziehung von Inspiration und Transpiration eben. Haltung ist verarbeitete Erfahrung, aus Vorsatz wird Gewohnheit. Das funktioniert nicht, wenn das nur im Kopf funktioniert. »Es ist schon gut, dass wir erwachsen werden«, schreibt Michael Bittner in »Deutsche im Wind«. Unmöglich, mit noch weniger noch mehr zu sagen.
Diese Sammlung kürzester Einlassungen über das urbane und rurale Leben der Jetztzeit und den ganzen Stuss, der da dranhängt, vermittelt eine sublime Perspektive ohne Arroganz. Was auch deswegen gelingt, weil der Autor nicht nur die Anderen, sondern ebenso sein erzählendes Ich bricht. Die etwas mehr als 30 Texte, genremäßig zwischen Satire, Anekdote und Glosse, sind teilweise bereits in verschiedenen Zeitungen erschienen, andere von ihnen scheinen eigens für die Ausgabe verfasst worden zu sein.
Das erste Stück gleich schlägt den Ton an, der bis zum Ende durchgehalten wird. Vorsichtig, aber nicht ängstlich, ironisch, aber nicht distanziert, klug, aber nicht dozierend. Ein Hubschrauber kreist über Berlin am Kampftag der Arbeiterklasse. Die Polizei will »die Übersicht behalten und geht in die Luft«. Derart auf der K-Lauer liegend, genießt der Erzähler den freien Tag im Park. Seine »schwer überwindliche Abneigung gegen Menschenmassen« lässt ihn von der revolutionären Gymnastik der Maidemos Abstand halten, von Männern also, »die besser in einem Kampfsportverein oder einer Delphintherapie aufgehoben wären«. Für die Weltenrettung nämlich sei er schon am Schreibtisch tätig. Was durchaus die Sichwichtignehmer parodiert, aber nicht nur. Auch wer überregional publiziert, sollte keine Illusion pflegen bezüglich der Wirkmacht seiner Worte. Verglichen allerdings mit den engagierten Straßengängern, die den reinen Schreibern gern politische Tatenlosigkeit vorwerfen, weil die sich zu selten auf der Straße blicken lassen, richten Publizisten wenigstens etwas aus. Wenn ein Autor in seinem Leben bloß drei Menschen mit seinen Texten weitergebracht hat, sind das schon mal drei mehr als bei jenen, die leidenschaftlich Schilder in die Luft halten.
Erfreulicherweise streift Bittner Politisches nur gelegentlich. Die meisten seiner Texte handeln vom stinknormalen Leben, was natürlich überaus politisch sein kann, aber erarbeitet werden muss. Diese Arbeit überlässt er gern dem Leser. Man kann ja nicht alles erledigen, und seinen Texten tut genau das gut. Beeindruckend hierbei sind nicht nur die Leichtigkeit und Präzision, mit der Bittner im Banalen zur Sache schreitet, sondern auch die Beobachtungen selbst. Regelrecht melancholisch seine Erinnerung an die Jugendzeit, in der er elternbedingt Jogginghosen tragen musste und beträchtlich darunter zu leiden hatte. Irritiert vermerkt er, dass der Status dieser Art Beinkleid heute ein anderer ist. Wann hat das eigentlich angefangen, dass die Jogginghose nicht automatisch ein Zeichen misslungener Lebensentwürfe war? Wer hat diesen jungen Menschen, die sie nunmehr als Feldzeichen gehobener Sitten tragen, zum ersten Mal ins Gehirn geschissen? Bittner gelingt noch, die Menschheit mit dem ungeschlachten Kleidungsstück zu versöhnen. Weil er der Held ist, den wir brauchen, und nicht der, den wir verdienen.
Eine andere Story lässt sich als Jordan-Peterson-Persiflage lesen. In der ostdeutschen Provinz, wo alles, was was kann, schon weggezogen ist, kommen mittlerweile zwei Männer auf eine Frau. Ein soziales Projekt müht sich, dort die Vielmännerei zu etablieren. Ein Ebenbild der Incel culture steigt empor, doch es steht Kopf und kann das nur, weil die Chads und Stacys längst in der Großstadt wohnen.
Es bleibt schwer einzuordnen, was der Autor hier insgesamt hinlegt. Halb Erzählung, halb Essay? Die Erzählung jedenfalls macht das Zugpferd, immer wieder gebremst vom Autor, der dem Augenblick »Verweile doch« sagt, wenn der allzu hässlich wird. Das kann in Form eines Exkurses passieren oder aber als hingerotzte Sentenz. Lang dauert es in keinem Fall. Dafür passiert es unentwegt. Ganze Abhandlungen werden durch Formeln ersetzt. Verhältnis der Altachtundsechziger zur Gen Z: »Wir haben immerhin für unser Eigenheim noch unsere Ideale verraten, die Jugend von heute hat nicht mal mehr welche.« Dekonstruktion der Xenophobie: »Am besten wird man Fremde los, indem man sie kennenlernt.« Wider die Dummheit des BSW: »Es gibt keinen Grund, gegen jemand zu wüten, der für dein Unglück nicht verantwortlich ist.« Die Grunderfahrung aller Yogastunden: »Dass wir mit einer Anfangsentspannung begannen, obwohl wir noch gar nichts geleistet hatten, gefiel mir ziemlich gut.« Urbaner Hochmut beim Schopfe gepackt: »Was in der Großstadt Toleranz heißt, ist oft nur Gleichgültigkeit.«
Das meiste ist gelogen und deswegen wahr. Wahrer jedenfalls, als läse man tatsächlich Geschehenes. Vielleicht darf man von befugter Fiktion sprechen. In Bittners grandioser Sexualgroteske etwa über die Damen, die Uwe Tellkamp sich nach seinen Lesungen bei Meißener Qualitätswein zuführen lässt, stimmen nicht mal die Werktitel, aber sie beschreibt Tellkamp besser als alles, was einfühlsame Reportagefinken in treuer Wiedergabe nicht ausgedachter Begegnungen mit dem als Dichter Missdeuteten vermitteln könnten. Bittners Tellkamp will backstage mit vier Damen über das Wesen des Daktylus reden, die Handys müssen draußen bleiben wegen seiner Vorbehalte gegen das 5G-Netz, dann entdeckt er eine Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, versucht sie wütend zu zerreißen, aber »das Papier war zu dick«. In einem Abstellraum fleht der Sachwalter alter, weißer, stets missverstandener und über Cancel Culture klagender Männer die eingeschleuste Journalistin vorm BDSM-Kreuz an: »Mach mich mundtot, bitte!«
Dem hybriden Charakter der Stücke entspricht auch die Dramaturgie. Die meisten von ihnen beginnen mit einem Anlass, der sich zum Ende hin als leicht täuschend erweist. Den Mittelteil füllt der Autor mit Reflexionen, die somit retardierenden Charakter haben. Auf die Art bringt er Gedankliches und überraschende Wendung unter eine Haube. Überhaupt freut man sich, einen zu lesen, der schreiben kann. So viele davon springen draußen nämlich nicht durch die Landschaft. Es reicht beim Schreiben ja nicht, keine Fehler zu machen. Stil im emphatischen Sinn des Wortes meint Erlesenheit des Vokabulars, insonders als Sorge ums finite Verb, meint Rhythmussicherheit bei Hypotaxe, die vom Leser unbewusst wahrgenommene Varianz der Satzperioden, Timing und Gefühl für den richtigen Ton, den kalkulierten Wechsel zwischen dezenter und wuchtiger Sprache, Kühnheit im Schicklichen, das Zusammenspiel von verdichtender Formel und entfalteter Erklärung, passgenauen Einsatz von Parallelismen, Anaphern, Anakoluthen, von Inversionen, Dreischritten usw. Der Schreibhandwerker versucht, seinem Satz Flügel zu bauen. Der Stilist macht ihn schwerelos. Bittner ist ein Stilist.
Ohne Gnade reiht er Schnurre an Schnurre. Kein Faden hält sie dennoch irgendwie zusammen. Der Star ist der Alltag. Das Okular folglich die Lupe. Man sieht Untiefen von Raufasertapeten, das Seelenleben der Seelenlosen, ein Panoptikum deutscher Klischees. Nur kommt das Ganze ohne Wut oder Verachtung aus, auch wenn natürlich Personen und Gegenstände notgedrungen hier und da lächerlich scheinen. Sie sind es, weil sie es sind, nicht weil der Autor sie dahin fabuliert. Bittner entblättert das Läppische und Verblödete beinahe mit Liebe. Jedenfalls mit einer Ruhe und Gediegenheit, die man von Max Goldt kannte, als der noch geschrieben hat. Selbst einem faschistischen Suffkopp begegnet der Autor mit einem gerade noch vertretbaren Maß an Empathie, ehe er ihn da hinschickt, wo er hingehört. Seine Lupe wird zum Kaleidoskop.
Michael Bittner: Deutsche im Wind. Geschichten und Satiren. Satyr-Verlag, Berlin 2025, 184 Seiten, 15 Euro
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