Mehrere Kriege alt
Von Jürgen Schneider
Refaat Alareer, Schriftsteller und Professor für Englische Literatur und Kreatives Schreiben an der (längst in Schutt und Asche gelegten) Islamischen Universität von Gaza, wurde am 23. September 1979 in Schudschaija, Gaza-Stadt, geboren. Er sagte von sich: »Jeder meiner Schritte, alle Entscheidungen, die ich traf, waren von der israelischen Besatzung (gewöhnlich negativ) beeinflusst. Als Kind warf ich Steine auf israelische Militärjeeps, ließ Drachen steigen und las.« Am 9. Oktober 2023 sagte er in einem Interview mit Electronic Intifada, wenn die israelische Armee in Gaza einmarschiere, werde er, der Akademiker, die Soldaten mit seinem Expo-Marker bewerfen, auch wenn es das letzte sei, was er tun könne. Und er prophezeite: »Es wird zu einer ethnischen Säuberung kommen. Wir wissen in der nächsten Woche noch nicht, ob wir im Meer landen, unter Trümmern oder, sollte dort Platz sein, auf Friedhöfen begraben oder, in die Wüste von Sinai vertrieben, sterben werden.« Knapp zwei Monate später war Alareer tot. Er wurde »mehrere Kriege alt«. Alareer erwähnte, dass die Gazaner nicht bestimmte Jahre, sondern Kriege alt werden: »Ein in Gaza im Jahr 2008 geborener Palästinenser hat sieben Kriege erlebt: 2008–2009, 2012, 2014, 2021, 2022, 2023 A und 2023 B.«
Am 6. Dezember 2023 kam Alareer bei einem gezielt ausgeführten israelischen Luftangriff auf die Wohnung seiner Schwester im Norden des Gazastreifens ums Leben. Dort hatte er Zuflucht gefunden, nachdem das Haus, in dem er wohnte, Ende Oktober bei einem israelischen Angriff schwer beschädigt worden war. Kurz vor seinem Tod hatte er bei einem Spaziergang seinem Freund Asem Alnabih anvertraut: »Ich bin müde. Ich bin erschöpft vom Herumrennen, von der Vertreibung und vom Wasserschleppen.« Seine Schwester Asmaa und drei ihrer Kinder, sein Bruder Salah und dessen Sohn Mohammed starben ebenfalls bei dem Raketenbeschuss. Zwei Tage zuvor hatte Alareer notiert: »Die Demokratische Partei und Biden sind verantwortlich für den Genozid, den Israel begeht.« Bereits 2022 hatte er festgehalten: »(Meine Frau) Nusayba und ich sind ein durch und durch durchschnittliches palästinensisches Paar: Wir haben zusammen mehr als dreißig Verwandte verloren.«
Alareers Mission, so schreibt Yousef M. Aljamal im Vorwort zu der posthum veröffentlichten Sammlung »If I must die«, sei es nicht nur gewesen, seine Geschichte zu erzählen, sondern andere zu befähigen, ihre Geschichten zu erzählen. »Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler, eine Gabe, die er auf seine Großmutter Kamal und seine Mutter Rifqa zurückführte. Er erzählte oft die Geschichte seiner Mutter von einer Nahtoderfahrung als Studentin in den 1960er Jahren, als israelische Soldaten in Schudschaija einfielen. Für Refaat war das Wachhalten von Erinnerungen eine Frage des Überlebens.« In seinem Gedicht »Mom« heißt es: »Auf Mamas Gesicht / Ein Buch / und des Lebens Vorwort«.
Promoviert mit einer Arbeit über die Dichtung von John Donne, verwies er in seinen Texten immer wieder auf englischsprachige Autoren wie William Shakespeare, Daniel Defoe, Jonathan Swift, Chinua Achebe oder Malcolm X. Und mahnte: »Vergesst nicht, dass Palästina zuerst und vor allem in der zionistischen Literatur und Poesie besetzt wurde.« »If I must die« versammelt nicht nur Gedichte, die anderen Texte im Buch sind Momentaufnahmen aus den Jahren von 2010 bis kurz vor Alareers Tod, die sich gewissermaßen zu einer Historie des Gazastreifens jener Jahre fügen.
Im ersten Text des Bandes greift Alareer auf Jonathan Swifts schwarze Satire »A Modest Proposal: For Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen to Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick« (Ein bescheidener Vorschlag: Um zu verhindern, dass die Kinder der Armen ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen, und um sie nutzbringend für die Allgemeinheit zu verwenden) von 1729 zurück. Das Problem, so Alareer, sei nicht die Hamas, sondern die Tatsache, dass der Gazastreifen voller Gazaner sei. Warum, so fragt er, kaufe, kidnappe oder verhafte die israelische Regierung diese nicht und verspeise sie? So könnte sie sich ihrer entledigen, viel Geld und Munition für kommende Kriege sparen, und die Überreste für den Bau einer den Gazastreifen umgebenden Mauer verwenden.
Mit Defoes »Robinson Crusoe« setzte sich Alareer 2008 auseinander, als Israel im Begriff war, eine neue Offensive gegen den Gazastreifen zu beginnen. Im Bombenhagel bereitete sich Alareer auf das nächste Semester vor. Crusoe, so stellte er fest, übte Kontrolle über das Schicksal Freitags aus, seines schwarzen indigenen »Kameraden« auf der Insel. Die Tatsache, dass Freitags Erfahrungen von dem sich kolonial und überlegen gebärenden Crusoe ausradiert werden, beschäftige Alareer. Er fragte sich, ob Israel nicht auf ähnliche Weise mit Palästinas Geschichte umgehe oder palästinensische Erfahrungen für den Rest der Welt interpretiere. Als die 23 Tage andauernde israelische Offensive endete und Gaza zu einer weiteren Phase des »Wiederaufbaus« und der »Ruhe« zurückkehrte, machte sich Alareer daran, die Anthologie »Gaza Writes Back« zusammenzustellen. Diese umfasste schließlich 23 Geschichten palästinensischer Autorinnen und Autoren, mit denen den 23 Tagen des militärischen Terrors nachträglich begegnet werden sollte. Alareer wollte sich und seine Kolleginnen und Kollegen nicht wie Freitag zum Schweigen bringen lassen: »Wir Palästinenser sollten nie irgendjemandes Freitag sein.«
Alareers Gedichte (die meisten schrieb er 2012) sind so ergreifend wie eingreifend. Nach seinem Tod ging sein 2011 geschriebenes Gedicht »If I Must Die, Let It Be a Tale« viral. Das an seine Tochter Shymaa gerichtete Gedicht beginnt mit den Zeilen »If I must die, / you must live / to tell my story« und endet »If I must die, / let it bring hope, / let it be a tale« (Wenn ich sterben muss, / musst du leben, / um meine Geschichte zu erzählen (…) Wenn ich sterben muss, / lass es Hoffnung bringen, / lass es eine Erzählung sein.) Shymaa blieb nicht viel Zeit, den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Sie, ihr Mann und ihr kleiner Sohn starben am 26. April 2024 bei einem israelischen Luftangriff.
Refaat Alareer: If I Must Die. Poetry and Prose. Zusammengestellt und eingeleitet von Yousef M. Aljamal. Mit einem Vorwort von Susan Abulhawa. OR Books, New York/London 2024, 288 Seiten, ca. 22,90 Euro
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