Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Freitag, 13. Dezember 2024, Nr. 291
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Kultursoziologie

Simmel für die Westentasche

Untern Tisch gefallen: Ein Buch von Peter Altenberg in einer typographisch üppigen, inhaltlich armen Ausgabe
Von Stefan Ripplinger
lit11online.jpg

Wer etwas über das Gemüt des Großstädters erfahren will, greife zu den Schriften des Soziologen Georg Simmel (1858–1918). Wer es eilig hat, dem bietet sich der Miniaturist ­Peter Altenberg (1859–1919) an. Der sagt etwas ganz Ähnliches wie Simmel, nur sagt er es amüsanter. Gerade ist Altenbergs Büchlein »Neues Altes« (1911) wiedererschienen, allerdings als Mogelpackung.

Es fehlen in der Neuausgabe nicht nur Widmung und Motti des Originals. Von dessen weit über hundert Prosastücken wird nur ein knappes Drittel wiedergegeben. Indem er diesen nicht ganz unerheblichen Umstand gar nicht erst erwähnt, erspart es sich der Herausgeber, Klaus Detjen, ihn zu begründen. Weshalb der heiße Seufzer »An eine Elfjährige« unter den Tisch fiel, lässt sich aber denken. An derlei altväterlichen Ergüssen fehlt es in Altenbergs Werk ebensowenig wie an Seitenhieben gegen Juden. Altenberg, bürgerlich Richard Engländer, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, passte sich, wie etliche andere, der Stimmung in Wien, dieser, wie er selbst schrieb, »Metropole des ›organischen Antisemitismus‹ der Welt«, an.

Die Gestalt des vorliegenden Bändchens erklärt sich damit, dass der He­rausgeber nicht Philologe, sondern Typo­graph ist. Altenbergs Text dient ihm als Vorwand, aus einzelnen Wörtern gewonnene kunstvolle Lettern zu präsentieren. Wer das Büchlein gegen seine Bestimmung zum Lesen hernimmt (statt es nur zu betrachten oder einer Tante zu Weihnachten zu schenken), wird nicht von einem Kommentar profitieren können. Gewiss, was die Formulierung »das große Mauer-Oehling und Steinhof der Menschheit« bedeutet, lässt sich mit ein paar Klicks herausfinden. Mauer-Öhling und Steinhof sind, was man seinerzeit »Irrenhäuser« nannte. Altenberg sah solche Häuser häufig von innen. Als »Neues Altes« herauskam, saß er in der Nervenheilanstalt Inzersdorf; nach Steinhof kam er ein Jahr später.

Aber nicht alles lässt sich so leicht erschließen. Zwar wird, wer sich ein wenig in Altenbergs Biographie auskennt, darauf tippen, dass mit dem Freund »Fr. W.« der Mäzen Fritz Waerndorfer gemeint sein könnte. Aber wenn es im ersten Satz von Detjens Auswahl heißt: »Ich kenne nur zwei Menschen, die mir freundschaftlich gesinnt sind, mein Bruder und A. R.«, fragt sich, ob A. R. die Schauspielerin Anka Rákarić ist. Aber sie soll Altenberg schon um 1905 die kalte Schulter gewiesen haben. Dann vielleicht Albine Ruprich? Wer weiß. Wichtiger ist hier sowieso der Bruder, Georg Engländer, der, solange es ihm möglich war, den lebensuntüchtigen Bohemien über Wasser hielt.

Aber genug von den Lebensumständen und zurück zu Altenberg als dem Simmel für die Westentasche. Als solcher erweist er sich auch in dieser mageren Auswahl; ich nenne nur drei Komplexe: Distanz, Natur, »Lebensenergie«. Die in der Folge der Industrialisierung enorm anschwellende Großstadt drängte unzählige Menschen auf engstem Raum zusammen. Das führte zu Simmels »sozialer Differenzierung« ebenso wie zu mitunter gewaltsamen Kollisionen. Altenberg empfiehlt da, »edle Distanz zu halten«. Wer sich in einem Café zu jemandem an einen Tisch setzen wolle, sollte bereit sein, abgewiesen zu werden. Soziologische Beobachtungen gehen bei ihm zwanglos in Verhaltensempfehlungen über, auch wenn Altenberg gern zugibt, sich bei seiner »ungeordneten Lebensführung« nicht immer an sie zu halten. Wie der Germanist Werner Michler analysiert, folgen Altenbergs Skizzen häufig der »Struktur von Bild und Kommentar, von Fehlverhalten und Richtigstellung, von Konflikt (A versteht B nicht) und Vermittlung, wobei der intervenierende Dritte meist Altenbergs Ich-Figur ist«.

Eine weitere Reaktion auf die Industrialisierung war ein aus allen Jugendbewegungen der Zeit schallendes »Zurück zur Natur!« Doch ist die Natur bei Altenberg auffällig kultiviert, sie ist beispielsweise nicht der ungerodete Urwald, sondern der städtische Teich oder Bach. »In dem Bache plätschern lustig die Enten, die kurz darauf abgestochen werden«, schreibt der enragierte Tierschützer. Ein solches vermitteltes Verhältnis zu dem, was andere zur selben Zeit als »ursprünglich« anstrebten, hatte sich zuvor schon in Altenbergs stark erotisch aufgeladener Begeisterung für die »Paradies-Menschen« Aschanti (aus Ghana) gezeigt. Auch sie gefielen ihm nicht in ihrer heimischen Umgebung, sondern als wie schöne Tiere in Wien Ausgestellte. In der Geschichte der Entfremdung war Altenberg weiter fortgeschritten als andere. Er hatte sich bereits damit abgefunden, dass ihm die Welt nur noch in Panoramen, Dioramen und vor allem auf den von ihm gesammelten und kommentierten Ansichtskarten erschien.

Bemerkenswert ist eine »Notiz« zu den Kintopps, in denen er die »modernsten, theoretisch wenigstens einzig möglichen Bildungsstätten für das Volk« sieht. Wer Kinovorführungen verbieten wolle, weil Unerträgliches, etwa »Tiermißhandlung«, gezeigt wird, ertrage die Wahrheit nicht: »Das erinnert allzusehr an die alte Anekdote, in der ein Millionär seinen Kammerdienern befahl: ›Werft’s mir diesen alten, unglücklichen Hausierer hinaus, er zerbrecht mir das Herz!‹«

Ebenso interessant ist Altenbergs Stellung zur Lebensphilosophie. Anders als Simmel oder auch Henri Bergson stellt er die Erhaltung und Mehrung der »Lebensenergie« (des »Élan vital«) gerade nicht in einen Gegensatz zur rational-technischen Entwicklung. »Diese Kraft erhalten, vermehren heißt eigentlich ein Kultivierter sein; sie schwächen, verringern heißt ein Unkultivierter sein. (…) Tausend Ungezogenheiten und Taktlosigkeiten der Menschen zerstören unsere angesammelten Lebensenergien.«

Hier äußert sich kein »Unbehagen in der Kultur«, von dem Sigmund Freud 20 Jahre später schreiben sollte, sondern im Gegenteil ein Unbehagen an der Kulturlosigkeit. Peter Altenberg, der stets zu den »Paradieseinfachheiten« vorstoßen wollte, suchte sie doch nie außerhalb des Urbanen, Zivilisierten und Entfremdeten. Wer ihn liest, wird am meisten davon überrascht sein, dass einer, der uns stets als Narr, unmäßig und verwahrlost beschrieben wird, philosophierte wie ein Zeremonienmeister.

Peter Altenberg: Neues Altes. Mit einem Text von Alfred Polgar. Hrsg. v. Klaus Detjen. Wallstein-Verlag/Büchergilde Gutenberg, Göttingen/Frankfurt am Main/Wien/Zürich 2024, 95 Seiten, 34 Euro

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton