Eine Insel, zwei Geschichten
Von Volker HermsdorfHispaniola, die nach Kuba zweitgrößte Insel der Karibik, ist wieder Schauplatz geopolitischer Interessenkonflikte. Während von Washington finanzierte kenianische Truppen der »multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission« derzeit die im Westen gelegene Republik Haiti besetzen, schottet sich die benachbarte Dominikanische Republik unter ihrem US-freundlichen Präsidenten Luis Abinader mit rassistischer Propaganda gegen Menschen ab, die vor Armut und Gewalt von dort zu fliehen versuchen. Auf beiden Seiten ist die Mehrheit der Bevölkerung Spielball und Opfer ausländischer Mächte. Diese nutzen geschickt die aus unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklung, anderen Sprachen und anderen kulturellen Traditionen resultierenden Unterschiede aus.
Kahle Landschaften, verdorrte Felder, vermüllte Küsten und Elendshütten auf der Westseite, sowie grüne Nutzviehweiden, weiße Traumstrände und noble Touristenressorts in der östlichen Dominikanischen Republik zeugen bereits optisch vom Missverhältnis zwischen den beiden Staaten. Während Haiti der ärmste der 35 Staaten des amerikanischen Kontinents ist, scheint die dominikanische Wirtschaft zu florieren. Doch der Schein trügt. Die Ursachen für die Unterschiede beider Länder liegen bereits in ihrer kolonialen Vergangenheit. Mit einer siegreichen Revolution der aus Afrika verschleppten Sklaven, die 1804 die erste nur von Schwarzen geführte Republik gründeten, wurde Haiti zum Wegbereiter der lateinamerikanischen Unabhängigkeit.
Die ehemaligen Kolonialherren und deren Nachfolger haben diese Niederlage bis heute nicht verwunden. Frankreich erkannte die Unabhängigkeit seiner einst reichsten Kolonie zwar an, verlangte dafür jedoch 20 Jahre lang hohe Zahlungen an die enteigneten Plantagenbesitzer. Die Schuldenlast bremste die Entwicklung der Insel, die bis dahin den meisten Zucker, sowie Kaffee und Baumwolle in die USA und nach Europa geliefert hatte. Die wirtschaftlichen Probleme führten zu Unruhen, die Washington als Vorwand dienten, das Land 1915 zu besetzen, um »die öffentliche Ordnung« wiederherzustellen.
Angehörige des U. S. Marine Corps und der von ihnen geführten »Gendarmerie d’Haïti« töteten während der 19 Jahre dauernden Besatzung Tausende Haitianer. US-Außenminister William Jennings Bryan nannte sie verächtlich »Nigger, die Französisch sprechen und unfähig sind, sich selbst zu regieren«. Bis heute dient das westliche Narrativ vom gescheiterten Staat zur Rechtfertigung ausländischer Invasionen in deren Folge dem Land ein wirtschaftliches und politisches Modell aufgezwungen wird, das für die Bevölkerungsmehrheit verheerend, für eine verschwindend kleine Oberschicht und internationale Unternehmen allerdings profitabel ist. Deren Macht und vermeintliche Überlegenheit werden seit Jahrzehnten durch Interventionen der USA und – seit dem Erdbeben von 2010 mit 230.000 Toten allein in Port-au-Prince – auch internationaler UN-Truppen garantiert.
Die im Ostteil gelegene Dominikanische Republik wurde seit ihrer im Februar 1844 erlangten Unabhängigkeit von Spanien ebenfalls mehrfach durch die USA besetzt. Bei der ersten Invasion schlugen US Marines und die von ihnen gegründete »Guardia Nacional Dominicana« zwischen 1916 und 1924 jeden Widerstand brutal nieder. Nach kurzer Zwischenzeit setzte Washington dann zeitweilig auf den US-freundlichen General Rafael Trujillo, der 1930 mit einem Putsch die Macht ergriff. Der Hitler-Verehrer ordnete ethnische Säuberungen an, bei denen zwischen 18.000 und 27.000 Haitianer massakriert wurden. Als Trujillo – offenbar mit Wissen und Duldung von US-Diensten, denen er lästig geworden war – im Mai 1961 von einem Attentäter erschossen wurde, fürchtete Washington ein zweites Kuba. Der aus dem Exil zurückgekehrte linke Intellektuelle Juan Bosch wurde mit 60 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt, sieben Monate später aber in einem von der CIA initiierten Militärputsch gestürzt. Als dessen Anhänger mit einer als »April-Revolution« bezeichneten Volkserhebung seine Rückkehr erzwingen wollten, schickten die USA 42.000 Marines, um die »kommunistische Gefahr« abzuwenden.
In den folgenden Kämpfen verloren über 5.000 Dominikaner ihr Leben. Die Besatzer blieben im Land, bis der aus dem US-Exil angereiste Joaquín Balaguer – der Trujillos Putsch unterstützt und ihm bis zuletzt als Staatspräsident gedient hatte – 1966 in manipulierten »Wahlen« in das höchste Staatsamt gehievt wurde. In den folgenden Jahren terrorisierte Balaguers »La Banda« genannte Privatarmee Gegner seiner Politik. In dessen Tradition rechtfertigt der im Mai wiedergewählte Präsident Luis Abinader heute einen De-facto-Ausnahmezustand, bei dem Tausende Haitianer und Dominikaner haitianischer Abstammung ohne Haftbefehl festgenommen und abgeschoben wurden, mit der Behauptung, er müsse die »dominikanische Identität und Souveränität« bewahren.
Das koloniale Erbe hinterlässt in beiden Ländern eine gewaltige soziale Ungleichheit. Der kleinen Schicht von Superreichen stehen Millionen Menschen gegenüber, die weder über ausreichend Nahrung, Wasser und Wohnraum, geschweige denn über einen Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen verfügen. In Haiti gelten über 60 Prozent der Bevölkerung als arm oder extrem arm, im »reichen« Nachbarland sind es rund 30 Prozent. Während das Bruttoinlandsprodukt in Haiti 2023 um 1,9 Prozent schrumpfte, wuchs die dominikanische Wirtschaft um 2,4 Prozent. Dazu trugen gewerkschaftsfreie Freihandelszonen, die ausländischen Konzernen billige und meist rechtlose Arbeitskräfte garantieren, sowie Zigtausende Wanderarbeiter aus Haiti bei. Diese schuften auf Feldern, Baustellen, in Restaurants und touristischen Betrieben und werden bei ausbleibender Nachfrage wieder abgeschoben.
Die von den USA finanzierte, den Vereinten Nationen abgesegnete und von Kenia angeführte multinationale Eingreiftruppe wird an dem Missverhältnis nichts ändern. »Sehen sie nicht, dass Kenia ein Instrument der USA ist: schwarze Invasoren mit weißen Masken?« warnte auch der linke dominikanische Schriftsteller Isa Conde vor Illusionen.
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