Neokoloniale Farce
Von Sevim Dagdelen
Wer sich mit dem gegenwärtigen Umgang des Westens mit China beschäftigt, fühlt sich unweigerlich an das berühmte Diktum von Karl Marx erinnert, wonach sich geschichtliche Ereignisse immer zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. In den Jahren 1900 und 1901 gipfelte die langjährige Unterdrückung des Landes durch die imperialistischen Mächte Europas in der brutalen Niederschlagung einer Aufstandsbewegung und dmn vom Deutschen Reich angeführten Kolonialkrieg gegen China. Heute, über einhundert Jahre später, stehen die Zeichen angesichts der zunehmenden Einkreisung und Konfrontation Chinas durch die NATO-Staaten erneut auf Sturm.
»Musterkolonie«
Im November 1897 landete das Flaggschiff »Kaiser« der Ostasiatischen Kreuzerdivision in der Bucht von Jiaozhou (Kiuatschou). Ungeachtet der propagandistischen Bezeichnung als »Musterkolonie« wurde dort ein brutales Kolonialregime etabliert, das von der Vertreibung und Enteignung der ortsansässigen Bevölkerung, von Ausbeutung der Kohlevorkommen und ethnisch-rassistischer Segregation etwa durch Aufteilung in eine »Europäerstadt« und eine »Chinesenstadt« gekennzeichnet war.
Der Widerstand gegen die Kolonialherrschaft kulminierte im Jahr 1900 in einem Aufstand der von der ländlichen Bevölkerung getragenen »Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie«, im Westen »Boxeraufstand« genannt. Seinen Höhepunkt fand der Aufstand in der Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Beijing, im Zuge derer der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler erschossen wurde. Infolge der Belagerung sandten sechs europäische Staaten, die USA und Japan ein »Expeditionskorps« nach China. Am 27. Juli 1900 hielt Kaiser Wilhelm II. bei der Verabschiedung der deutschen Truppen in Bremerhaven seine »Hunnenrede« mit dem berühmt-berüchtigten Befehl: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!« Weniger bekannt hingegen ist, wie der Monarch die Entsendung der Truppen zur Niederschlagung des Aufstands begründete: »Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das umso empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist.«
Unter der militärischen Führung des Deutschen Kaiserreichs schlugen die imperialistischen Mächte den »Boxeraufstand« im August 1900 blutig nieder und führten einen brutalen Kolonialkrieg gegen die Bevölkerung einschließlich Massakern, Plünderungen, Zerstörungen und Vergewaltigungen. Nach der Einnahme Beijings musste sich die chinesische Regierung im September 1901 im sogenannten Boxerprotokoll dazu verpflichten, den Kolonialmächten eine Entschädigung in Höhe von 450 Millionen Tael zu zahlen, je nach Umrechnungg entspricht das heute über 50 Milliarden Euro, sowie auf demütigende Art und Weise Abbitte zu leisten.
Im alten Geist
Für die Raubzüge Deutschlands in seiner chinesischen Kolonie wurde nie eine Entschädigung geleistet. Deutsche Straßen sind weiter nach Kriegsverbrechern benannt. Der Leiter des »Expeditionskorps«, Graf von Waldersee, ist bis heute Ehrenbürger der Stadt Hamburg, ausgezeichnet »für seine Tätigkeit im Interesse des Weltfriedens«. Wie auch bei anderen deutschen Kolonialverbrechen verweigert sich die Bundesregierung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte in China. So geht aus der Antwort der Ampelkoalition auf meine Anfrage hervor, dass sie nicht einmal bereit ist, die deutschen Greueltaten während der Niederschlagung des »Boxeraufstandes« als Kriegsverbrechen zu bezeichnen, geschweige denn, eigene Initiativen, wie etwa Gespräche mit der chinesischen Regierung zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft, durchzuführen.
In China gilt die Zeit zwischen dem Opiumkrieg im Jahr 1840 und der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 als »Jahrhundert der Schande«, weil sie durch eine langanhaltende Unterdrückung des Landes durch ausländische Mächte gekennzeichnet war. Wer mit chinesischen Politikerinnen und Politikern spricht, weiß, dass Versuche westlicher Bevormundung heute in China als neokolonialer Affront und Angriff auf die Souveränität des Landes angesehen werden. So kommt es nicht von ungefähr, dass die deutsche Außenministerin im April 2023 von ihrem Amtskollegen Qin Gang darauf hingewiesen wurde, dass China nichts weniger als einen »Lehrmeister aus dem Westen« brauche.
Angesichts der Erfahrung mit der kolonialen Aufteilung des Landes stößt insbesondere die Unterstützung separatistischer Bewegungen in China auf harschen Widerspruch. Die China-Politik der Bundesregierung trägt den Geist des Kolonialismus auch heute in sich. China wird belehrt, was es zu tun und zu lassen hat. Die US-Politik, die Teile wie Taiwan, Hongkong oder Xinjiang aus China herausbrechen will, wird vorbehaltlos unterstützt. Allein, dieses Ansinnen wird zur Farce, da man es schlicht mit einem ganz anderen Land als vor hundert Jahren zu tun hat. Aber von derlei Erkenntnissen ungetrübt legt die Bundesregierung sogar die wilhelminische Kanonenpolitik wieder auf.
In enger Gefolgschaft Washingtons zur westlichen Machtprojektion gegenüber China im Indopazifik werden in dieselben Gewässer, in denen damals das Ostasiengeschwader der kaiserlichen Marine kreuzte, um den vermeintlichen »Bruch des Völkerrechts« durch China zu sühnen, heute erneut deutsche Kriegsschiffe entsandt. Dieses Mal unter dem Vorwand, die »regelbasierte internationale Ordnung« verteidigen zu wollen.
Es geht allein darum, den Aufstieg Chinas, wenn nicht zu verhindern, so wenigstens bremsen zu wollen. Zu diesem Zwecke bereiten Bundesregierung und EU-Kommission in enger Abstimmung mit den USA einen Wirtschaftskrieg gegen Beijing vor. Wie im Falle von Russland lassen sich Brüssel und Berlin auch hier wieder nach vorne schieben. Doch sollte die Drohung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Realität werden, Strafzölle auf den Import chinesischer Autos zu erheben, stünde im Gegenzug die Existenz der deutschen Autoindustrie in Frage, die 36 Prozent ihres Umsatzes in China erwirtschaftet. So droht der neokoloniale Wirtschaftskrieg gegen China zur gnadenlosen Selbstzerstörung zu werden. Die Zeit aber, als es dem Westen gelang, Staaten zu zwingen, ist vorbei. Tempi passati. Wer es dennoch versucht, riskiert am Ende den Weltkrieg. Es braucht eine emanzipatorische Kraft, auch in Deutschland, die diesen Kriegstreibern in die Arme fällt.
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