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Aus: Putsch in Chile, Beilage der jW vom 06.09.2023
Chile-Beilage

Im Takt der Fernschreiber

Kybernetik und Synergie. Mit Cybersyn schuf Salvador Allende die Grundlagen für eine dezentral gesteuerte Nationalökonomie
Von Barbara Eder
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Arbeiter vor den nationalisierten Ford-Werken in Casablanca (28.5.1971)

Der 15. Juli 1971: Salvador Guillermo Allende Gossens, chilenischer Präsident und vormaliger Spitzenkandidat der Unidad Popular, befindet sich seit gut einem Jahr im Amt und forciert weitere Umsetzungen seines ambitionierten Programms. Nachdem das Wahlbündnis der Unidad Popular am 4. September 1970 die Mehrheit aller Stimmen für sich entschied, stehen weitere Veränderungen an. Bislang hatte Allende Sozialprogramme formuliert, Bildungs- und Gesundheitsreformen beschlossen, Löhne erhöht und Land verteilt; in der Mittagszeit des 15. Juli unterzeichnet er im Roten Salon des Palacio de La Moneda ein Papier, das eine der bedeutendsten Verfassungsreformen Chiles besiegelt. Es schafft die juristischen Voraussetzungen für die Verstaatlichung der wichtigsten Industriezweige des Landes, allem voran des Kupferbergbaus; zu diesem Zeitpunkt befanden die chilenischen Minen sich noch in privatem Besitz US-amerikanischer Konzerne, darunter Cerro Corporation, Kennecott und Anaconda.

Im Chile des Jahres 1971 verbarg sich hinter dem Schlagwort »Nacionalication« kein platter Populismus, sondern ein breit angelegter Wirtschaftsplan. Dieser Plan stellte die Wiederaneignung jener Produktionsmittel in Aussicht, die bislang Waren für den Export hergestellt hatten er sollte den Weg zur ökonomischen Unabhängigkeit einer noch jungen sozialistischen Republik ebnen. Anfangs stieß Allende dabei auf erhebliche Probleme: Das dezentrale Flickwerk aus Fabriken, Bergwerken und anderen Industriezweigen einige waren erst seit kurzem nationalisiert, andere standen bereits unter staatlicher Kontrolle ließ sich schwer koordinieren; zudem mangelte es an Konzepten zur Administration des expandierenden Industriesektors mit seiner wachsenden Zahl von Beschäftigten. Allende beauftragte Fernando Flores, den technischen Direktor der chilenischen Wirtschaftsförderungsbehörde Corfo und späteren chilenischen Finanzminister sowie seinen Berater Raul Espejo mit dem Konzept einer dezentralen Verwaltung sämtlicher Wirtschaftsbetriebe; dabei orientierten sich beide nicht am hierarchisch-zentralistischen Sowjetmodell, sondern entwickelten kybernetische Ansätze zur Steuerung der verstaatlichten Industrie. Das Projekt »Cybersyn« war geboren benannt nach der angestrebten Synthese von Kybernetik und Synergie.

Cybersyn war – anders als das US-amerikanische Arpanet – kein informationstechnologisch hochgerüstetes Netzwerk für den exklusiven Datenverkehr, sondern ein offenes Experiment zur bedarfsgerechten gesamtwirtschaftlichen Planung. Die technischen Möglichkeiten waren von Beginn an jedoch begrenzt: Während der Amtszeit Allendes war der Computerkonzern IBM in Chile aus Angst vor möglicher Verstaatlichung nur noch eingeschränkt tätig, infolge der anhaltenden Blockade durch die Nixon-Regierung konnte die sozialistische Republik kaum US-Großtechnologien importieren. Statt dessen sah man sich gezwungen, auf Vorhandenes zurückzugreifen und Altbewährtes neu zu nutzen: Von der Vorgängerregierung hatte Allende 500 Telexgeräte übernommen, sie bildeten die technische Basis für Cybersyn. Per Fernschreiber ließen sich elektronische Textnachrichten quer durch das ganze Land verschicken, je einer davon stand in jeder Fabrik, verbunden mit zwei Großrechnern im Kontrollraum von Santiago de Chile. Die Telexgeräte lieferten täglich neue Daten zu aktuellen Rohstoffniveaus, quantifizierbare Informationen dieser Art bildeten die Basis für die statistische Aufbereitung, Entscheidungen über den weiteren Verlauf einer Branche wurden oft noch am selben Tag getroffen.

Im Jahr 1973 nahm das sechsköpfige Cybersyn-Team um Flores und Espejo seine Arbeit im Herzen von Santiago de Chile auf. Die Cybersyn-Zentrale bestand aus einem sechseckigen Raum, ausgestattet mit sieben drehbaren Sesseln aus weißem Fiberglas. An ihren Armlehnen befanden sich nebst Aschenbechern und Einbuchtungen für Whiskygläser auch Knöpfe mit geometrischen Formen, die den erneuten Abruf der auf einem riesigen Monitor frontal im Raum präsentierten Zahlenkolonnen möglich machten. Alle Informationen, die den Kontrollraum erreichten, passierten die Relais von IBM-Mainframe-Computern. Das darauf implementierte Programm arbeitete mit Bayes-Filtern und wurde von dem in Stanford ausgebildeten chilenischen Informatiker Isaquino Benadof entwickelt. In ihren Grundzügen basiert die Software auf einer einfachen Input-Output-Matrix: In der senkrechten Leiste einer Matrize werden die Branchen notiert, in der waagerechten die Ressourcen. Liest man sie horizontal, erkennt man, wohin der Output – also die fertigen Waren einer Branche – geht, in der senkrechten Abfolge wird ersichtlich, woher die für die Produktion benötigten Rohstoffe kommen. Auf diese Weise ließ sich etwa berechnen, wie viel Aluminium, Zinn und Kupfer benötigt wurden, um eine Glühbirne herzustellen.

Des weiteren trägt Cybersyn die Handschrift des britischen Kybernetikers und Managementtheoretikers Anthony Stafford Beer, der 1971 im Auftrag von Fernando Flores nach Chile reiste. Beer hat die technische Infrastruktur hinter ­Cybersyn mit einem auf sensorischen Übertragungen basierenden Nervensystem verglichen und naturalisierende Analogien zwischen zerebralen Vorgängen und Datenleitungen hergestellt. ­Cybersyn war jedoch kein vom technofetischistischen Versprechen auf unbegrenzte Geschwindigkeit getriebenes, akzeleratonistisches Unternehmen, vielmehr handelte es sich um ein technologisch unterstütztes Pilotprojekt für eine sozialistische Ökonomie der Planung. Informationen zu Verbrauch und Produktion in den Wirtschaftszweigen Energie, Kupfer, Stahl, Petrochemie, Fischfang und Transport wurden erstmals quantitativ erfasst, elektronisch übertragen und in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Erst durch Interpretation wurde aus einer schier endlos erscheinenden Flut an Informationen ein geordnetes Ganzes: Die statistischen Auswertungen ermöglichten Rückschlüsse auf Künftiges und Analysen des Vergangenen, ökonomische Entwicklungen konnten antizipiert, und bei absehbaren Engpässen konnte adäquat reagiert werden.

Die aus dieser Richtung kommenden Signale hat Salvador Allende früh vernommen. Während des CIA-gestützten Streiks der chilenischen Transportunternehmen im Oktober 1972 organisierte er 200 loyale Lkw-Fahrer, die selbst während der Krise die Verfügbarkeit von lebenswichtigen Gütern sicherstellen konnten. Ein Telex im Transportministerium half ihm dabei, die Bevölkerung selbst im Ausnahmezustand noch mit dem Nötigsten zu versorgen.

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