Revolte der Frauen
Von Florence HervéWieder ein männliches Jubeljahr? Die Helden einmal mehr Rudi Dutschke, Fritz Teufel und Co? Als Gratulanten und Kritiker haben sich jedenfalls schon mal Männer hervorgetan: Jörg Meuthen, Alexander Dobrindt und Emmanuel Macron. »Weg vom links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland«, rief der heutige AfD-Bundessprecher Meuthen schon im April 2016 seinen Anhängern auf einem Parteitag in Stuttgart zu. Und Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, schrieb Anfang Januar dieses Jahres in einem Gastbeitrag für die Welt, auf die »linke Revolution der Eliten« müsse nun eine »konservative Revolution der Bürger« folgen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum hat angekündigt, im Mai des gesellschaftlichen Aufbruchs vor 50 Jahren ganz politikfrei als »einer Zeit der Utopien und der Enttäuschungen« zu gedenken. Einer der damaligen Protagonisten, Macrons Freund Daniel Cohn-Bendit, empfiehlt dagegen, 1968 zu vergessen: »Wir haben eine andere Welt, dieses Zurückblicken ergibt keinen Sinn.«
Mit »Achtundsechzig« werden bis heute vor allem langhaarige demonstrierende Männer assoziiert. Und Chaos, Gewalt und sexuelle Freizügigkeit. Geht es um die in jenen Jahren aktiven Frauen, geht es meist um die barbusige Kommunardin Uschi Obermaier oder um den berühmten Tomatenwurf der Studentin Sigrid Rüger auf ihre Genossen. Gerade dieser Protest gegen die Ignoranz der Cheftheoretiker der Bewegung, was die Gleichberechtigung der Geschlechter betrifft, zeigt, wie sehr jene Zeit auch eine des Frauenaufbruchs war. Lange vor jenem Tomatenwurf und der Ohrfeige für den Altnazi und damaligen CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im November 1968, die Beate Klarsfeld berühmt machte, organisierten sich Frauen. Es gärte schon jahrelang europaweit, bevor sich um das Jahr 1968 zum Beispiel der Frankfurter Weiberrat, der Berliner Aktionsrat für die Befreiung der Frau und der Bonner Arbeitskreis Emanzipation konstituierten. Frauen waren zudem von Anfang an Teil antikolonialistischer, antirassistischer und anderer Bewegungen.
Frauenfeindliches Klima
In der Bundesrepublik waren es Zeiten des Bruchs mit überkommenen Werten und der Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit, der Demonstrationen gegen den Schah-Besuch in Bonn und die Diktatur in Iran, gegen den schmutzigen Krieg der USA in Vietnam, gegen Notstandsgesetze und die Springer-Presse. Zeiten des Protests anlässlich der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des Anschlags auf Rudi Dutschke. Es waren Zeiten des Kampfes um die Demokratisierung der Hochschulen, gegen Spießermoral, staatliche Repression und autoritäre Familienstrukturen. Es ging auch um eine sozialistische Zukunft, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und Ausbeutung. Für viele Frauen hieß das zugleich: Rebellion gegen Geschlechterdiskriminierung und patriarchales Denken.
Die Zeit, zu der Meuthen, Dobrindt und Co zurückkehren möchten, war keine goldene, sondern eine extrem frauen- und kinderfeindliche. Erwerbstätige Frauen sah man nicht gern damals, erst recht nicht, wenn sie Mütter waren. Sie durften nur außer Haus arbeiten, wenn dies mit ihren »Pflichten in Ehe und Familie« vereinbar war. So war es in Paragraph 1356 des bürgerlichen Gesetzbuches 1958 festgelegt worden – der mit diesem Text noch bis 1977 Gültigkeit hatte. Zur Zeit der Revolte hatten noch die sogenannten Leichtlohngruppen Bestand: Frauen erhielten in Betrieben 30 bis 40 Prozent weniger für ihre Arbeit als ihre männlichen Kollegen. Es gab nur für 30 Prozent der Drei-bis Sechsjährigen Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen – halbtags. Zu 70 Prozent wurden diese von den Kirchen betrieben. Vielfach beschränkten sich die Kontakte der Kindergärtnerinnen zu den Kindern auf Befehle und Verbote. Diffamierende Bezeichnungen wie »Rabenmütter« und »Schlüsselkinder« sollten berufstätigen Frauen ein schlechtes Gewissen einflößen.
Die »Frauenenquete« der Bundesregierung propagierte noch 1966 das Leitbild der »strahlenden, munteren, jugendlichen, attraktiven Hausfrau«. In Frauenzeitschriften wie Freundin (13/1964) hieß es: »Eine kluge Frau gibt sich so weiblich wie möglich (…) Sie versucht nicht, in Bereichen Karriere zu machen, in denen ein Mann mit seiner Verantwortung besser dran ist. Dort vermännlicht eine Frau fast immer.« Dementsprechend sah auch die Bildung für Mädchen aus.
Die Diskriminierung von Studentinnen zeigte sich schon an ihrem geringen Anteil: Nur 24 Prozent der Studierenden waren in den 60ern weiblich, und der Anteil der Arbeitertöchter betrug gerade mal 2,8 Prozent. Und an der Bonner Pädagogischen Hochschule erklärte ein Professor Kölbel noch 1971 in einem Seminar über Mädchenerziehung: »Warum sollte ein Mädchen in ihren besten Jahren, also im Alter von 19, 20 Jahren, ihre Zeit durch wissenschaftliches Arbeiten vertun, während sie in dieser Zeit am leichtesten Kinder gebären könnte?« Oder: »Eine Jungfrau, die die Macht des Mannes noch nicht erfahren hat, ist sozusagen ein Neutrum.« Ich studierte damals an der Uni Bonn und war u. a. im feministischen »Arbeitskreis Emanzipation« aktiv, in dem auch Studentinnen der Pädagogischen Hochschule vertreten waren. Gemeinsam organisierten wir Protest- und Flugblattaktionen gegen die haltlosen und frauenfeindlichen Thesen dieses Dozenten.
Viele weitere Gesetze machten Frauen vom guten Willen des Mannes abhängig. So durften sie bis 1962 ohne Einwilligung ihres Ehemanns nicht einmal ein eigenes Bankkonto eröffnen. Eine Scheidung erfolgte nach dem »Schuldprinzip«. War eine Frau »schuldig« geschieden, also auf Antrag des Mannes, zum Beispiel wegen »Ehebruchs«, verlor sie zudem das Sorgerecht für ihre Kinder. Vorehelicher Sex wurde bestraft. Eine Frau, die eine Schwangerschaft abbrach, galt nach dem alten Paragraphen 218 als Verbrecherin. Minderjährigen ledigen Müttern – damals war man erst mit 21 Jahren volljährig – wurden ihre Kinder häufig weggenommen, sie selbst wurden oft in Heime gesperrt, wo sie Demütigungen, Zwangsarbeit, nicht selten auch physische Gewalt erlitten.
Aufruhr gegen das Patriarchat
Frauen hatten also allen Grund zu revoltieren. Hinzu kam, dass viele sich fortschrittlich gebende Männer von den Forderungen ihrer Genossinnen nichts hören wollten. Auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im September 1968 hielt die heutige Filmemacherin Helke Sanders, damals Mitglied des SDS und des Berliner Aktionsrats für die Befreiung der Frau, eine Rede über die Unvereinbarkeit von Kinderbetreuung, Hausarbeit, Studium und Beruf. Als die Genossen auf dem Podium nicht darauf eingingen, kriegten sie die eingangs erwähnten Tomaten an den Kopf. Ulrike Meinhof kommentierte damals in Konkret: »Die Männer, deren Anzüge – die Frauen wieder reinigen werden – bekleckert wurden, sollten gezwungen werden, über Sachen nachzudenken, über die sie noch nicht nachgedacht haben (…) Hier wurde erstmalig klargestellt, daß diese Privatsache keine Privatsache ist.« Die Aktion von Sigrid Rüger gilt seitdem als Geburtsstunde der neuen Frauenbewegung, einer sozialen Protestbewegung.
In der Folge des Aufbruchs von 1968 gründeten sich zahlreiche Frauengruppen, beeinflusst unter anderem von der US-amerikanischen und der französischen feministischen Bewegung. Von dieser übernahm beispielsweise Alice Schwarzer die von ihr in der Bundesrepublik initiierte Kampagne gegen den Strafrechtsparagraphen 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte. 374 teils prominente Frauen bezichtigten sich für die Titelgeschichte der Illustrierten Stern vom 6. Juni 1971 selbst: »Wir haben abgetrieben!« Dies kann als Initialzündung für eine breite Bewegung gegen das Abtreibungsverbot gelten – zu der neben Demos auch organisierte Busfahrten für ungewollt Schwangere in niederländische Kliniken und 1972 das Tribunal gegen den Paragraph 218 in Frankfurt am Main gehörten. Unterschiedliche Positionen wurden sichtbar, es wurde heftig über die Ursachen der Frauendiskriminierung gestritten: Ist das Patriarchat oder der Kapitalismus oder beides schuld? Auch die sogenannte Kinderladenbewegung wurde maßgeblich von Frauen getragen.
Eine bunte Projektbewegung entstand: Frauenhäuser, Frauenkultur, -forschung, -gesundheitszentren und vieles mehr. Parallel fanden auch Aktionen der Arbeiterinnenbewegung statt: die Streiks der Pierburg-Frauen in Neuss 1973 und der Gelsenkirchener Heinze-Frauen 1979 gegen Lohndiskriminierung. Mitte der 80er Jahre waren es die Aktionen der Rheinhausener, der Hoesch- und der Hattinger Frauen gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen in der Stahlbranche im Ruhrgebiet. Familienfrauen organisierten Straßensperren, Mahnwachen, Demonstrationen.
Außerdem entwickelte sich eine vielfältige Frauenfriedensbewegung – gegen die Neutronenbombe 1978, gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa 1979, gegen die geplante Einbeziehung von Frauen in die Bundeswehr. Es gab Frauenfriedensmärsche durch Europa und Aktivitäten rund um die UN-Weltfrauenkonferenz 1985. In all diesen Auseinandersetzungen waren die Verbindung von politischer und individueller Emanzipation, das Infragestellen der Geschlechterordnung wie auch die Frauensolidarität bemerkenswert.
Zurück zur Konkurrenz
Ende der 80er Jahre war die Zeit der kleinen Reformen (Paragraph 218, Familienrecht, Institutionalisierung von Frauenpolitik u. a.) wie auch der großen Bewegungen vorbei. Viele Frauen zogen sich aus Politik und Bewegung zurück. Eine Zersplitterung in vielfältige Einzelprojekte und Netzwerke fand statt, Entpolitisierung und Individualisierung, stärkere Orientierung auf das eigene Ich und Abkehr von gemeinsamen Zielen waren die Folgen. Eine Zeit der Abwehrkämpfe begann.
Misst man heute die Achtundsechzigerinnen-Bewegung an ihren Ergebnissen, so lässt sich feststellen: Die selbstgesteckten Ziele der Abschaffung des Kapitalismus und der Befreiung der Frau wurden nicht erreicht, auch wenn viele kleine Erfolge verbucht werden konnten. Ein Leben ohne Trauschein ist heute kein Thema mehr. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Frauen haben sich verändert. Verbesserungen wurden bei der Vereinbarkeit von Familie, Partnerschaft und Berufstätigkeit erzielt. Gleichwohl stehen viele Frauen auch heute noch vor der Entscheidung »Kinder oder Beruf«. Die »Lohnlücke« zwischen Männern und Frauen ist kleiner geworden, aber noch immer ist der Unterschied erheblich. Zugleich propagieren neoliberale »Feministinnen« heute anstelle von »Kinder, Küche, Kirche« das Motto »Karriere, Konsum und Konkurrenz«.
Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse von 1968 bestehen noch heute – und seit 1989 wieder weltweit. Doch die aktuelle »MeToo«-Debatte, die Demonstrationen Hunderttausender Frauen gegen die Trump-Administration in den USA wie auch die »Care-Revolution«-Bewegung für Gleichberechtigung und Entlastung in Pflegeberufen und in der privaten Sorgearbeit machen Mut. Sie zeigen: Trotz aller Rückschläge gibt es auch heute sozialistisch-feministische Einmischung.
Florence Hervé pendelte in den 60er Jahren zwischen Bonn und Paris. Sie war sowohl Beobachterin als auch Akteurin der 1968er Jahre: als Journalistin für französische und deutsche Zeitungen, als Studentin in der sozialistischen Bewegung und als Mitgründerin und Aktive des »Arbeitskreises Frauenemanzipation« Bonn 1969 – einer der Vorläufer der Demokratischen Fraueninitiative und des Herausgeberinnenkollektivs des Kalenders »Wir Frauen«.
Literatur
– Florence Hervé: Studentinnen in der BRD. Eine soziologische Untersuchung, Köln 1973
– César/Frach/Hervé/Sollmann: Die Diskriminierung der Schülerinnen – Am Beispiel der nordrhein-westfälischen Lehrpläne, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln, Heft 9/1970
Neu erschienen:
– Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. Verlag C. H. Beck, München 2018, 256 S., 20 Abb., 24,95 Euro
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