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Aus: Afrika, Beilage der jW vom 03.12.2014

Funktionierende Ausbeutung

Libyen hat derzeit zwei konkurrierende Regierungen, zwischen denen keine Einigung in Sicht ist. Sicher ist nur der Ölexport
Von Knut Mellenthin
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Drei Jahre nach der bestialischen Ermordung des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi und dem von der NATO militärisch erzwungenen Sieg einer völlig diffusen »Revolution« befindet sich das Land in einem anscheinend ausweglosen Chaos. Libyen hat zwei verfeindete Parlamente und zwei Regierungen, die sich gegenseitig die Legitimität absprechen. In der ostlibyschen Metropole Bengasi bekämpfen sich prowestliche Truppen und eine Koalition fundamentalistischer Milizen, von denen mindestens eine dem im Irak und Syrien aktiven »Islamischen Staat« Treue geschworen hat. Darüber hinaus gibt es in vielen Orten und Regionen überall in Libyen bewaffnete Konfrontationen, die sich nur teilweise dem groben Schema »Prowestler gegen Islamisten« zuordnen lassen. Meist sind die Auseinandersetzungen von alten Stammeskonflikten und anderen lokalen Interessengegensätzen geprägt.

Dass es aufgrund der gewaltsamen Einmischung der NATO im Frühjahr 2011 genau so kommen würde, war mit fast hundertprozentiger Gewissheit vorauszusehen. Libyen, das niemals ein einheitlicher Staat war, sondern dazu erst bei der Gewinnung der Unabhängigkeit 1951 gemacht wurde, stellt ein Mosaik von mehr als hundert Stämmen mit unterschiedlichen Interessen dar. Ghaddafi, der 1969 durch einen unblutig verlaufenen Putsch an die Macht gekommen war, hatte das höchst komplizierte Staatswesen nicht nur durch militärischen Druck, sondern mehr noch durch politische Klugheit, Vertrautheit mit den Verhältnissen und großes Geschick zusammengehalten. Ihn zu stürzen musste geradezu zwangsläufig ein schwer zu bändigendes Chaos auslösen. Das konnte den Regierungen in Washington und anderen westlichen Hauptstädten nicht ganz unklar sein.

Entsprechend kleinlaut und hilflos agieren sie jetzt. Das kommt auch in der gemeinsamen Erklärung zum Ausdruck, die die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien am 18. Oktober veröffentlichten. Ungewöhnlich ausgewogen und vorsichtig wird nur eine einzige der zahlreichen islamistischen Milizen namentlich »verurteilt«. Gleichzeitig bekundeten die Unterzeichner jedoch »Besorgnis« über das eigenmächtige Agieren des prowestlichen Warlords Khalifa Haftar, der zumindest in der Vergangenheit zwanzig Jahre lang für die CIA gearbeitet hat, und riefen zur Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« auf. Die Bereitschaft zu »individuellen Sanktionen gegen diejenigen, die den Frieden, die Stabilität und die Sicherheit Libyens gefährden oder den politischen Prozess untergraben« wurde in der Stellungnahme der westlichen Staaten nur in allgemeiner Form verkündet, aber nicht konkretisiert. Lediglich die Gruppe »Ansar Al-Scharia«, die für den Anschlag auf die US-Botschaft 2012 in Bengasi verantwortlich gemacht wird, hat der UN-Sicherheitsrat Mitte November auf seine Liste terroristischer Vereinigungen gesetzt. Militärische Drohungen wurden bisher gegen keine der Milizen ausgesprochen.

Die Aufforderung, die Konflikte durch Gespräche zu lösen und auf Gewalt zu verzichten, steht allerdings im Widerspruch zur einseitigen Parteinahme des Westens, der UNO und der gesamten »internationalen Gemeinschaft« für das am 25. Juni neugewählte Parlament und die von diesem eingesetzte Regierung. Beide residieren seit ihrer Vertreibung aus der Hauptstadt Tripolis durch islamistische Milizen im August und September in der ostlibyschen Stadt Tobruk, die nur 150 Kilometer von der ägyptischen Grenze entfernt liegt.

»Demokratisch und inklusiv«, also alle wesentlichen Kräfte des Landes repräsentierend, ist das von allen UN-Staaten anerkannte Parlament in Tobruk mit Sicherheit nicht. Dafür bürgt schon die Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent am 25. Juni. Zwei Jahre zuvor hatten rund 60 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt. Anders als im vergleichsweise vielfältig besetzten alten Parlament sind die Islamisten in der neugewählten »Volksvertretung« nur mit etwa einem Siebtel der Abgeordneten vertreten. Ganz genau sagen lässt sich das nicht, weil alle Kandidaten als »Unabhängige« antreten mussten. Die Teilnahme von Parteien war verboten.

Der Oberste Gerichtshof Libyens hat am 6. November die Auflösung des Tobruker Parlaments angeordnet, da die Vorgänge, die zur Wahl vom 25. Juni führten, illegal gewesen seien. Insbesondere sei eine vorausgegangene Verfassungsänderung, die die Neuwahl nach nur zwei Jahren Amtszeit des alten Parlaments ermöglichte, verfassungswidrig gewesen. Das Tobruker Parlament kündigte sofort an, das Urteil nicht zu akzeptieren, da es »unter der Drohung von Waffen« zustande gekommen sei. Auch die gesamte »internationale Gemeinschaft«, nicht nur der Westen, scheint die gerichtliche Entscheidung ignorieren zu wollen. Diese Haltung verkennt die Tatsache, dass es ohne eine - derzeit wohl unwahrscheinliche - Einigung zwischen den beiden Parlamenten oder eine gut vorbereitete Neuwahl kaum zu einer Annäherung kommen kann.

Indessen scheinen die streitenden und sich militärisch bekämpfenden Kräfte eine Frage von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung vorläufig halbwegs pragmatisch gelöst zu haben: die nach der Förderung des einzigen Reichtums Libyens, des Erdöls, seinem Export und der Verteilung der Einnahmen. Der Konflikt darum war noch im Frühjahr mit Waffengewalt ausgetragen worden, nachdem fundamentalistische Milizen im vorigen Jahr vier wichtige Ausfuhrhäfen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Im März unternahmen sie zum ersten Mal den Versuch, einen vollgeladenen Tanker auf eigene Rechnung starten zu lassen. Nachdem es der schwachen regulären libyschen Marine nicht gelungen war, enterte eine US-amerikanische Spezialeinheit den Tanker in internationalen Gewässern vor der Küste Zyperns und zwang ihn zur Rückkehr in einen unter Regierungskontrolle stehenden libyschen Hafen. Wohin das Öl hätte gehen sollen, wurde anscheinend nicht aufgeklärt. In Zypern wurden damals zwei israelische und ein senegalesischer Staatsbürger unter dem Verdacht festgenommen, an dem nach UN-Regeln illegalen Geschäft beteiligt gewesen zu sein.

Von Rechts wegen hat die staatliche National Oil Co. (NOC) das Monopol auf den Export libyschen Erdöls. Sie hat ihren Sitz in Tripolis, das von islamistischen Milizen beherrscht wird. Die NOC hat alle internationalen Gesellschaften aufgerufen, Öl ausschließlich über sie zu kaufen, und sorgt - übereinstimmenden Presseberichten zufolge - gegenwärtig für die Verteilung der Einnahmen an beide konkurrierenden Regierungen. Das ist freilich nicht mehr als eine Momentaufnahme. Bewaffnete Aktionen wie die Besetzung des größten libyschen Ölfelds Al-Scharara durch Angehörige einer fundamentalistischen Miliz Anfang November können jederzeit Störungen verursachen. Die Ölproduktion zeigt starke Schwankungen und bewegt sich zwischen 500.000 und 900.000 Barrel pro Tag. Vor der »Revolution« hatte Libyen im Schnitt zwischen 1,5 und 1,6 Millionen Barrel pro Tag gefördert.

Knut Mellenthin ist freier Journalist und lebt in Hamburg. In der jungen Welt schreibt er regelmäßig zu außenpolitischen Themen.

 

BU:

Terror und kein Ende: Ein Aufständischer während der Kämpfe gegen die libysche Armee am 10. März 2011 nahe des Ölhafens Ras Lanuf im zentralen Norden des Landes. Neun Tage später griff die NATO Libyen an. Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi wurde gestürzt und ermordet, die Feuer im Land lodern bis heute weiter

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