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Aus: Ausgabe vom 12.12.2007, Seite 13 / Feuilleton

In absentia

Am Montag, dem 111. Todestag des Stifters Alfred Nobel, wurden in Stockholm die mit jeweils zehn Millionen Kronen (1,1 Millionen Euro) dotierten Nobelpreise verliehen. Der für Literatur ging an Doris Lessing (88), die der Zeremonie aus gesundheitlichen Gründen fernblieb. Auch zur Verlesung ihrer Dankesrede am Freitag war die Britin nicht erschienen. Ihr Verleger Nicholas Pearson hatte einen Text vorgetragen, in dem sich Lessing gegen die »zersplitternde Kultur« des heutigen Westens wendet, »in der selbst das in Frage gestellt ist, was vor ein paar Jahrzehnten noch Gewißheit war, und in der es ganz normal ist, daß junge Männer und Frauen nach jahrelanger Ausbildung nichts über die Welt wissen, nichts gelesen haben und sich nur in irgendeinem Fachgebiet auskennen, zum Beispiel mit Computern«. Anrührend unbeholfen geißelt Lessing »dieses neue Internet, das eine ganze Generation mit seinen Belanglosigkeiten verführt hat«. Nichts hält sie vom »Bloggen und Bluggen und so weiter«.

Den westlichen Teenagern, gerade aus besseren Häusern, unterstellt sie pauschal Lesefaulheit. In Afrika dagegen gebe es immensen »Bildungshunger«. Als einen solchen läßt sie nur den »Hunger nach Büchern« gelten. Den hat sie in Simbabwe »vor Mugabes Terrorregime« erlebt, was sie ausführlich schildert. Abgesehen von zahlreichen Gegenbeispielen, die sich für dieses simple Modell finden ließen – es ist ein Vorrecht der Alten, die Ausdifferenzierung der Welt (Spezialistentum und häppchenhaftes Halbwissen, keiner hat mehr das große Ganze im Blick) für eine Erfindung des US-Geheimdienstes zu halten. Und wer Universalgelehrte vom Schlage des Geheimrats Goethe so schmerzlich vermißt wie Doris Lessing, hat den Literaturnobelpreis ganz ohne Zweifel verdient.


(jW)