Im Fokus der Verdrängung
Von Emre Şahin, Offenbach am Main
»Das ist nicht Bad Homburg, sondern Offenbach am Main.
Dir gefällts hier nicht? Jau, du passt hier auch nicht rein.
Geh hin, wo du herkommst, wenn es dir nicht passt, Mann.
Geh zurück nach Deutschland, das ist Offenbach«
Ree G – Offenbach
Die beiden reichsten und ärmsten Städte Hessens liegen nebeneinander: Auf der einen Seite Frankfurt am Main, die Stadt mit den meisten Millionären. Direkt daneben Offenbach: hessenweit die höchste Erwerbslosenrate, deutschlandweit Schlusslicht bei der Kaufkraft, europaweit mit 66 Prozent der höchste Migrantenanteil an der Bevölkerung.
Einst war die Lederindustrie der Stolz der Stadt. Und natürlich die Offenbacher Kickers, ehemals DFB-Pokalsieger. Sie kicken mittlerweile in der Regionalliga. Der Deutsche Wetterdienst sitzt hier. Rapmusikfans verbinden die Stadt mit dem Künstler Haftbefehl; er hat seiner Stadt viele Songs gewidmet und sie ein Stück berühmter gemacht. Mark Medlock, Sänger und Deutschland-sucht-den-Superstar-Gewinner von 2008, kommt auch von hier. Die ganze Showstaffel über erklärte er jedoch mehrmals vor einem Millionenpublikum, was für ein Ghetto und trauriges Städtchen Offenbach sei, ein Ort, an den er niemals zurückwolle. Danke für nichts.
Was passiert mit einer armen Stadt, die in unmittelbarer Nachbarschaft einer reichen Stadt liegt, die immer weiter wächst und wachsen will? Frankfurt breitet sich über seine Grenzen aus und greift auf Offenbach über. Nur zwei S-Bahn-Stationen von Offenbach entfernt liegt der Frankfurter Stadtteil Ostend. Ein Arbeiterviertel, das als nicht gentrifizierbar galt, so dachte man, ehe die Europäische Zentralbank (EZB) 2014 aus dem Eurotower in den Stadtteil zog. Seitdem hat sich kein Frankfurter Bezirk so stark verändert wie das Ostend. Penthäuser und Geschäfte für die Reichen sprießen aus dem Boden.
Offenbachs damaliger Oberbürgermeister Horst Schneider (SPD) hoffte offenbar, dass durch den »Hype« im Ostend und die Mietenkrise in Frankfurt auch für seine Stadt einige Krümel abfallen würden. Die PARTEI schlug vor, Offenbach gleich in Ostfrankfurt umzubenennen, so könnten die Menschen wenigstens ihre OF-Autokennzeichen behalten. Die gemeinsame Stadtgrenze ist der Bezirk Kaiserlei, wo sich Hotelketten aneinanderreihen. Konzerne wie Hyundai haben dort ihre Europazentrale. Mit dem »Goethequartier« ist bereits eine erste Luxuswohnsiedlung entstanden. Baustellen weisen auf weitere hin, aber der Eindruck täuscht. Manche liegen seit Jahren, andere gar seit Jahrzehnten brach und sind heute Symbole auch für die ebenso hochgesteckten wie dummen Ziele der seit 1986 regierenden SPD.
Im Zuge des EZB-Umzugs sollte hier Offenbachs größtes Wohnbauprojekt entstehen: ein neues Stadtviertel namens »Vitopia Campus Kaiserlei« (New Frankfurt Towers) mit Hunderten Wohnungen auf Zeit für »Manager« sowie der größten privaten Geothermieanlage Deutschlands. Wieso ausgerechnet das? Weil es besonders klingt. Nicht die Geothermieanlage war hier das eigentliche Highlight, sondern das größte Irgendwas Deutschlands. Zahlreiche Skandale bei den Immobilienkonzernen CG- und später Adler-Gruppe sorgten für jahrelangen Stillstand. Der Durchbruch gelang erst Ende Oktober: Die Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft ABG hat das Grundstück in Offenbach gekauft. Statt des Vitopia-Campus soll es nun ein »Kaiserviertel« geben, mit noch einem weiteren Hotel für die Gegend, Büros und 1.200 Mietwohnungen. Davon sind 30 Prozent für Studierende und zehn Prozent für Menschen mit geringem Einkommen vorgesehen. Selbst das ist ein Fortschritt im Vergleich zum Hafenviertel, dem neuesten Premiumwohnquartier der Stadt.
Die Gegend ist der einzige Ort, in dem keine einzige Sozialwohnung entstanden ist. Generell fällt auf, dass in den frankfurtnahen Bezirken weniger Sozialwohnungen gebaut werden als in jenen fernab vom Zentrum. Dabei zahlten die Offenbacher vergangenes Jahr im Schnitt fast ein Drittel ihres Nettoeinkommens für die Kaltmiete, was der Spitzenwert in Hessen ist. Der Kaufpreis der etwa 800 Wohnungen im Hafen liegt im Schnitt bei 1.300 Euro pro Quadratmeter. Wer soll sich das leisten? Offensichtlich soll nicht die Wohnungskrise in Offenbach bekämpft werden, sondern die in Frankfurt. Nicht überraschend ist es auch hier ein Frankfurter Unternehmen, das die Häuser mit Aussicht auf die Skyline baut. Der Hafen ist heute zwar ein Viertel, das in Offenbach liegt, mit Offenbach aber nicht viel zu tun haben will. Die Realität kann für die Zugezogenen problematisch sein, denn die Offenbacher sind nicht verschwunden. Vermutlich wird in keinem Viertel der Stadt die Polizei so oft wegen Ruhestörung gerufen wie am Hafen – die »Bildungsbürger« stören sich an den Jugendlichen aus den angrenzenden Orten, die dort einfach abhängen wollen.
Eine unrühmliche Rolle bei der Vermarktung der Stadt spielt die Hochschule für Gestaltung (HfG), die beim Bau des Hafens nicht leer ausgeht und einen Design Port erhält. Sie unterstützt das Stadtmarketing mit Imagekampagnen wie »OF LOVES U«. Kai Vöckler, zugezogener Professor der HfG, schreibt in seinem Buch »Offenbach ist anders«, dass es sich um eine Stadt handle, in der »Billigläden« dominierten und generell eine »neue wirtschaftliche Perspektive« gefunden werden müsse. »Urban Professionals« könnten mit ihren »spezifischen Konsumbedürfnissen und Freizeitaktivitäten einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung städtischer Räume« nehmen, weshalb er vorschlägt, mit Hilfe von Kultur Standort- und Stadtentwicklung zu betreiben. Denn »weiche« Standortfaktoren wie das »Negativimage« Migrantenstadt würden einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung im Weg stehen.
Nach dem Hafen liegt das angrenzende Nordend als nächstes im Fokus der Verdrängung. Die Veränderungen in unmittelbarer Nachbarschaft haben bereits Einfluss auf diesen Stadtteil, sind laut Vöckler sogar erwünscht. Die Veränderung der sozialen Struktur durch den Zuzug von »Kreativen« und anderen hochqualifizierten und einkommensstarken Schichten in das Offenbacher Nordend sei zu begrüßen, »denn bisher fand hier eher eine soziale Homogenisierung nach unten statt (…)«. Das Nordend gelte aufgrund der »räumlichen Konzentration von migrantischer Bevölkerung und Sozialtransferempfängern als schlechte Adresse (sogenanntes Ausländerghetto)«. Es müsse daher für einkommensstärkere Schichten wieder attraktiver gemacht werden. Die »positiv zu sehende stärkere soziale Durchmischung« sei das Ziel – nun gut, aber wenn Menschen mit Geld kommen, wo bleiben dann die ohne, Herr Professor?
Am Hafen kostet die gleiche Pizza in den Restaurants »L’Osteria« und »Rimini« fast das doppelte wie im nur wenige Minuten entfernten »Il Bosco« im Nordend. Das Geschäft war an der Ludwigstraße 187, ehe das Gebäude aufgekauft und den Mietern gekündigt wurde. 2019 musste das Restaurant raus – 33 Jahre, geopfert dem Profit einer Eschborner Immobilienfirma. Il Bosco konnte sich in der Nachbarschaft etwas Neues mieten und weitermachen, bloß wie lange? Die Stadt veröffentlichte 2015 ihren »Masterplan Offenbach am Main: 2030«. Darin heißt es, dass die Ludwigstraße, die Hafen und Goetheplatz verbindet und das »Rückgrat des Quartiers« sei, in eine »Kreativmeile« umgewandelt werden solle. Die Gestaltung des Viertels orientiert sich mehr und mehr an den Bedürfnissen der Menschen, die neu hinziehen sollen. Die Veränderung ist bereits im Gange: Die Frankfurter Werbeagentur Kastner, die für Red Bull arbeitet, ist bereits in das Nordend gezogen, ebenso wie die Deutschlandzentrale von Levi’s.
Auch am Marktplatz, dem Herz der Stadt, wenn man so will, macht die Veränderung nicht halt. Innerhalb von zehn Jahren wurden alle Gebäude auf beiden Seiten der S-Bahn-Haltestelle abgerissen und durch hässliche Neubauten ersetzt. Dort, wo einst das »Toys R Us« stand, entstehen nun die »Berliner Höfe«. Uuuh, klingt fancy. Das laut Eigenbezeichnung »Mixed-Use-Quartier« bietet künftig Wohnungen und Büros für Wichtigtuer. Die Neubauten passen nicht in die Gesamtarchitektur der Stadt und wirken überall dort, wo sie entstanden, wie die falschen Steine bei Tetris. Dazu haben sie alle abgehobene Möchtegernnamen, wie auch das »Rathaus Plaza« in der Innenstadt.
Verdrängung ist in Offenbach kein neues Phänomen. Frankfurt nachzueifern auch nicht. Als die Mainmetropole in den 50er Jahren den Straßendurchbruch Berliner Straße in der Altstadt bauen ließ, tat man es dem großen Nachbarn nach. Für die 31 Meter breite Berliner Straße in Offenbach wurden sämtliche Grundstückbesitzer entlang der Strecke enteignet und der historische Stadtteil ohne Rücksicht plattgemacht.
Jeder Text über Verdrängung in Offenbach wäre unvollständig, wenn der Lohwald unerwähnt bliebe. Die migrantische Siedlung wurde vor mehr als 20 Jahren von der Stadt aus der Landkarte getilgt und ihre Bewohner vertrieben. Der Grund? Das Viertel, isoliert vom Stadtgeschehen zwischen einer Bahntrasse und einem Waldgebiet gelegen, war selbst für Offenbacher Verhältnisse besonders arm und galt der Kommune als kriminell. 1999 wurde es von den Stadtverordneten zum Abriss freigegeben. Wie so üblich in diesem Land, sollte nicht die Armut bekämpft werden, sondern die Armen. Heute heißt die Siedlung »An den Eichen«. Schicke Einfamilienhäuser in einer Nachbarschaftskulisse, die man aus US-Horrorfilmen kennt. Nicht einmal die Straßennamen durften bleiben. Das »botanische Viertel« der Stadt schmückt sich mit Straßennamen wie Veilchen-, Ginster- und Krokusweg, um jegliche Spuren an den Lohwald vergessen zu machen.
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