Fortschritt und Rückständigkeit
Von Arnold Schölzel
Das umfangreiche Buch Zbigniew Wiktors »China auf dem Weg der sozialistischen Modernisierung« erschien im polnischen Original im Jahr 2008. Die nun über eineinhalb Jahrzehnte später vorliegende deutsche Ausgabe wurde um einen Text des Autors zum XX. Parteitag der KP Chinas im Jahr 2022 und einen Auszug aus der dort gehaltenen Rede Xi Jinpings zur Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus ergänzt. Das Nachwort des Chinaexperten Uwe Behrens ist mit August 2025 datiert.
Der Band führt inhaltlich zumeist zurück ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, enthält aber auch historische Texte zur Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert und zur Geschichte der chinesischen KP sowie einige Schlussfolgerungen zur Sozialismustheorie. Im Mittelpunkt steht das rasante Wirtschaftswachstum des Landes bis 2007. Wiktor untersucht die Frage, welche Faktoren für dieses enorme Tempo entscheidend waren und welche widersprüchlichen Folgen die wirtschaftliche Umwälzung für die Eigentumsverhältnisse, die Klassenstruktur, die Armuts- und Reichtumsverteilung im Land hatte. Ausführlich stellt er in beinahe lexikalischer Form die Verfassungsänderungen und das politische System Chinas dar. In diesen Abschnitten hat der Band den Charakter eines Handbuches.
Allerdings erscheint vieles, was zwischen 2000 und 2010 zu China in der kommunistischen Diskussion erörtert wurde, heute überholt. Hier sei nur eine Ziffer genannt: Um das Jahr 2000 herum hatte sich das chinesische Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu 1978, als Deng Xiaoping seine Politik der »Reform und Öffnung« einleitete, auf etwa 1,2 Billionen US-Dollar vervierfacht. 2024 war es mit rund 18,7 Billionen Dollar 60mal größer als 1978.
Und: Vor 20 Jahren drehten sich viele Diskussionen um »Globalisierung« – auch Wiktor widmet dem Begriff mehrere Abschnitte. Der heute gängigere Begriff »Multipolarität« war noch nicht weit verbreitet. Der Verfasser behandelt dieses Thema im ersten von drei großen Kapiteln seines Buches. Es trägt die Überschrift »Chinas Widersprüche«, das zweite ist mit »Das politische System der Volksrepublik China« überschrieben und enthält vor allem Auszüge aus Dokumenten. Das dritte heißt »Chinas Entwicklung und die Welt«. Laut einer Anmerkung des Verfassers wurde es zusammen mit dem früheren Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen (1988/1989), Mieczyslaw Rakowski (1926–2008), erarbeitet. Es ist der interessanteste Abschnitt, weil die Autoren unter anderem auf die Geschichte der KP Chinas und die Hintergründe des Bruchs mit der KPdSU eingehen (die Schuld weisen sie vor allem Nikita Chruschtschow und dessen Politik der Annäherung an die USA zu), aber kenntnisreich auch die Politik Mao Zedongs und Deng Xiaopings darstellen.
Wiktor führt hier ein berühmtes Zitat Dengs an, das für dessen von der Realität, nicht von Wünschen geleiteten Politik stehe: »Armut ist nicht Sozialismus und erst recht nicht Kommunismus. Die Überlegenheit des Sozialismus liegt darin, dass er auf die schrittweise Entwicklung der Produktivkräfte und die Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des Volkes abzielt.« Für China sei es »wichtig, am Marxismus festzuhalten, ebenso wichtig ist es, am Sozialismus festzuhalten«. Die KP Chinas, so Wiktor, habe aus diesen Annahmen geschlossen, »dass die sozialistische Umgestaltung Chinas im Verhältnis zu seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit zu weit fortgeschritten war«. Effizienter sei es, neben Großbetrieben kleine Privatbetriebe zuzulassen, den Volkskommunen und Staatsunternehmen mehr Handlungsfreiheit zu geben und ausländisches Kapital, nicht zuletzt von Auslandschinesen, anzuziehen und damit moderne Technik. Der chinesischen Führung sei es gelungen, »die Leninsche Taktik der NÖP-Zeit in großem Maßstab und mit großem Erfolg« anzuwenden.
Mehrfach betont der Autor, die Volksrepublik sei »nicht vom Weg des sozialistischen Aufbaus abgewichen«. Seine theoretische Schlussfolgerung aus dem Aufstieg Chinas lautet: Eine klassenlose Gesellschaft könne durch Vergesellschaftung in verschiedenen Formen verwirklicht werden, aber es könne sich »nicht um eine zentralisierte Wirtschaft handeln«. Wiktor spricht in diesem Zusammenhang vom jetzigen »Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien«. In dieser Hinsicht beruhten die Zukunftsprognosen von Marx und Engels weitgehend auf der Antithese zu den »Prinzipien der damaligen kapitalistischen Wirtschaft«. Deng habe den daraus entstandenen Dogmatismus der sozialistischen Länder, der auch eine Ursache ihres Zusammenbruchs gewesen sei, überwunden. Die Weiterentwicklung der Grundsätze einer sozialistischen Gesellschaft verlaufe allerdings nicht ohne Fehler: Diese seien in der äußerst komplexen inneren und äußeren Situation Chinas kaum zu vermeiden. Wiktors kühne Thesen besagen: Sein Buch ist aktuell geblieben.
Zbigniew Wiktor: China auf dem Weg der sozialistischen Modernisierung. Tredition, Ahrensburg 2025, 488 Seiten, 29 Euro gebunden, 24 Euro Taschenbuch
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