»Eine sinnlose Zerstörung«
Von Andreas Müller
Gebührt dem Sport eine eigene, selbständige Wissenschaft oder müsste es in der Mehrzahl eher Sportwissenschaften heißen? Dient der Sport, wissenschaftlich betrachtet, nur als »Vorsilbe« für Disziplinen wie Medizin, Psychologie, Ökonomie, Geschichte, Recht, Pädagogik oder Philosophie? Interessiert er auch die Naturwissenschaften oder bedient er sich ihrer nur? Grundsätzliche Fragen wirft Albrecht Hummel in seinem Buch »100 Jahre Berliner Sportwissenschaft« auf. Der Autor zeichnet nach, wie der Sport seinen Siegeszug zunächst in Berlin und Leipzig antrat, unter Bezeichnungen wie Turnen, Leibes- oder Körpererziehung; wie er über verschiedene Institute, Anstalten und Fakultäten die akademische Kurve nahm; wie der Sport »wissenschaftlich gemacht« und verwissenschaftlicht wurde; wie er schließlich sogar Lehrstühle eroberte.
Dennoch bleibt nach der Lektüre der Eindruck, das Sportuniversum als Ganzes bleibe bis heute amorph und unförmig. Noch immer scheint der Gegenstand ein riesengroßer. Ein Phänomen, das mit wissenschaftlichen Kriterien nicht völlig zu fassen und einzuordnen ist, seitdem es vor reichlich zwei Jahrhunderten von England aus den Erdball eroberte – einschließlich seines Namens, der aufs lateinische »disportare« zurückgeht, was so viel wie »sich zerstreuen« bedeutet und ehedem etwa Jagen und Reiten bezeichnete.
Ins Zentrum seines 370seitigen Buches mit acht Kapiteln hat der Autor die Ausbildung des sportlichen Personals für Schulen gestellt. Naheliegend, Hummel (Jahrgang 1949) ist eine Koryphäe der Sportpädagogik. Als letzter Leiter der »Arbeitsstelle Körpererziehung« an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) musste er bei deren Ende 1990 das Licht ausmachen. Danach war er von 1993 bis 2013 an der TU Chemnitz tätig, als Spezialist in den Fächern Sportpädagogik und Sportdidaktik.
Es ist verdienstvoll, wie er die Geschichte der Sportwissenschaft in Deutschland bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt und so eine äußerst lehrreiche Zusammenschau liefert – wenngleich sie in manchen Passagen nicht allzu populär daherkommt und einige Wiederholungen beinhaltet. Besonders beachtlich aber sind die Kapitel fünf bis sieben, welche die Entwicklungen nach den »Disruptionen« 1945 und 1990 darstellen. Und der Autor schlägt den Bogen in die Gegenwart: »Heute ist die Sportwissenschaft ein wucherndes disziplinäres Konglomerat mit mehr als 500 Studiengängen an Deutschlands Universitäten und Hochschulen.« Zu Recht wird von ihm auch der sportpolitische Dilettantismus in der deutschen Ministerialbürokratie auf Bundesebene beklagt: »Die deutsche Sportwissenschaft hat in erster Linie ein Qualitätsproblem, das sich schon seit längerer Zeit abzeichnet.«
Mit konstruktiver Kritik spart der Ostdeutsche nicht. Die besten Anregungen bezieht er aus der DDR und seinen eigenen Erfahrungen mit einem Sportsystem, das etwa bei der Ausbildung und dem Einsatz seines pädagogischen Personals eine nachgerade vorbildliche, durchgehende Systematik und Methodik aufwies. In der BRD dagegen herrschte föderale Zersplitterung.
Energisch tritt der Autor dem bis heute lebendigen Mythos entgegen, alles sei in der DDR der Gier nach Medaillen untergeordnet worden. So zeigt er, welche Fortschritte die 1970 etablierte »eigenständige, gut organisierte multidisziplinäre Schulsport-Forschung« ermöglichte. In der Bundesrepublik findet sich bis heute nichts Vergleichbares. Dabei wäre es eingedenk der Missstände beim Sportunterricht aktuell sinnvoller denn je, dem ostdeutschen Vorbild zu folgen. Weitsichtig wurden ab 1986 in Kooperation mit dem Klinikum Berlin-Buch in Ostberlin sogar Diplomlehrer für Sport und Rehabilitation ausgebildet. Die Sportlehrer seien »die tragende Säule im gesamten sportwissenschaftlichen System« gewesen, so Hummel rückblickend. Ein berufsbezogener Ansatz, der unter den neuen Verhältnissen »nach dem Beitritt 1990 nicht weiterverfolgt« worden ist.
Genauso verhielt es sich mit den Analysen zur Qualität des Sportunterrichts, die im DDR-System regelmäßig und umfassend erfolgten. Anders in der Bundesrepublik. »Es gab keine belastbaren Daten und Aussagen zur Qualität und Wirksamkeit des Schulsports in den Ländern der BRD, die turnusmäßig erhoben wurden. Eine regelmäßige Berichterstattung zur Lage des Schulsports erfolgte nicht.« Präsens wäre richtiger: Erfolgt bis heute nicht. Im Gegenteil: Die einzelnen Länder weigern sich seit Jahren, Rechenschaft darüber abzulegen, wie es um ihren Sportunterricht bestellt ist, wie viele Stunden ausfallen und wie viele nur mit Hilfe fachfremden Personals mehr schlecht als recht abgehalten werden.
Welch absurder Zustand für eine sogenannte Sportnation. Noch dazu eine, die wieder Olympische Spiele ausrichten möchte. Auch diesen Bogen zum Leistungssport schlägt Albrecht Hummel. Der immer wieder wiederholten Behauptung, die Erfolge der DDR-Athleten verdankten sich alleine dem staatlichen Dopingsystem, hält der 76jährige Wahrheiten entgegen, die hierzulande nicht gerne gehört werden. Er betont zwei Faktoren für das Erreichte: »Erstens die systematisch-organisationalen Leistungen und konsequente Durchsetzung der Förderkonzeption ›Vom langfristigen Leistungsaufbau und der einheitlichen Sichtung und Auswahl von Talenten‹ (…) Ein zweiter hervorzuhebender Grund lässt sich insbesondere in der Ausbildung einer wissenschaftlich fundierten, praxisverbundenen und erfahrungsbasierten beruflichen Könnerschaft der Sportlehrkräfte (Diplomsportlehrer, Schulsportlehrer), der Übungsleiter und Trainer identifizieren. Diese professionellen Akteure waren Garanten der Sporterfolge in der DDR.« Sie legten ein Fundament, das trug – ob mit Doping oder ohne.
Doch all das musste weg, entschieden nach dem Mauerfall die neuen Machthaber, und zwar möglichst schnell. In kürzester Zeit wurde das sportliche Erbe des deutschen Sozialismus zunichtegemacht. Selbst die moderne Schulsportforschung wurde abgewickelt. Hummel urteilt: »Eine sinnlose, symbolpolitische Zerstörung von allem, was nicht in die normativen Vorgaben der BRD-Muster passte.« Begünstigt von einer frisch gewählten Volkskammer ohne Schneid. Die Parlamentarier hätten damals meist tatenlos zugeschaut, statt Einspruch zu erheben, meint Hummel. Wichtiger wäre ihnen die »persönliche Pool-Position« gewesen. Es scheint, der Mann hat auch Humor.
Albrecht Hummel: 100 Jahre Berliner Sportwissenschaft. Berlin 2025, Verlag Leonhard-Thurneysser, 370 Seiten, 20 Euro.
Zu beziehen über: thurneysser@gmx.de und Thurneysser-Verlag, Friedrich Kleinhempel, Dolomitenstr. 17, 13187 Berlin
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