Bei ihm stimmte es
Von Nico Popp
Wenn man in die Army kam, musste man eine Liste unterschreiben. Da standen ungefähr 25 Organisationen drauf, und der Unterzeichner bestätigte so, dass er da nirgendwo Mitglied war, erzählte Victor Grossman, als wir 2023 vor seinem 95. Geburtstag in der 1961 bezogenen Wohnung in der Berliner Karl-Marx-Allee drei Stunden lang über sein Leben sprachen. »Ich war in einem Dutzend bestimmt«, sagte er lächelnd und mit dem starken amerikanischen Akzent, mit dem er auch nach über sieben Jahrzehnten die Sprache des Landes sprach, in das er 1952 gekommen war.
Warum hatte er bei der Einberufung nicht einfach seine Mitgliedschaft offengelegt? »Weil ich Angst hatte«, sagte er ohne zu zögern. In den USA musste sich seit 1950 jedes Mitglied der kommunistischen Partei oder einer mit ihr verbundenen Organisation einzeln als »ausländischer Agent« registrieren. Tat man das nicht, drohten hohe Haftstrafen. Victor hatte es nicht gemacht. Viel später traf er mal einen Genossen, der sich damals geweigert hatte, die Liste zu unterschreiben. Man hatte ihn nach einiger Zeit »unehrenhaft«, aber ohne Strafe entlassen. Der Preis: Er landete auf einer schwarzen Liste, die überall dort vorlag, wo er sich bewarb.
Stephen Wechsler, wie Victor damals noch hieß, hatte unterschrieben und kam als Soldat der US-Armee nach Bayern. Die Soldaten, die während der Grundausbildung körperliche Beschädigungen angezeigt hatten, um dem Dienst in Übersee zu entgehen, kamen nach Korea. Als Victor das erzählte, war ihm das Entsetzen über diesen Zynismus immer noch anzumerken.
Es dauerte nur ein paar Monate, bis der Soldat Wechsler bei irgendeiner Überprüfung ins Netz geriet. Als er nach der Rückkehr von einem Urlaub die Vorladung des Militärgerichts in Nürnberg in der Hand hielt, war er sofort entschlossen, sich abzusetzen. So entschlossen, dass er in Uniform in die Geschäftsstelle der KPD in Nürnberg spazierte und die verdutzten Genossen dort – natürlich erfolglos – bat, ihn in die DDR zu schleusen. Entschlossenheit und Bestimmtheit waren Victors auffallendste Eigenschaften.
Als ich ihm damals das redigierte Interview zur Durchsicht gab, war er in einer Hinsicht nicht zufrieden: Der Tag, an dem er in Linz über die Donau schwamm, sei der wichtigste Tag in seinem Leben gewesen – und jetzt komme das eigentlich nur in einem Satz vor. Das war angesichts der Fülle des Materials unvermeidlich, aber der Tadel war natürlich berechtigt. Als er durch den Fluss schwamm, wurde aus Stephen Wechsler Victor Grossman. Den Rat, den Namen aus Sicherheitsgründen zu ändern, hatte dem 24jährigen Deserteur ein sowjetischer Offizier gegeben.
So kam er in die junge DDR. Er studierte in Leipzig Journalismus und lernte »meine Renate« kennen, mit der er bis zu ihrem Tod 2009 verheiratet war. Er war Lektor, Redakteur beim Democratic German Report und beim Auslandsrundfunk und baute das Paul-Robeson-Archiv an der Akademie der Künste auf. Mit Vorgesetzten allerdings kam der selbstbewusste und direkte Mann nie klar. Dass er seit 1968 als freiberuflicher Publizist arbeitete, nannte er »lebensverlängernd«. Die DDR, das merkte man ihm an, hatte er, ohne je die Staatsbürgerschaft anzunehmen oder in die SED einzutreten, mehr zu »seinem« Land gemacht als viele, die dort Amt und Funktion hatten. Als wir über deren Niedergang und Ende sprachen, verwendete er Worte wie »Verzweiflung« und »Verbitterung«. »Die Partei war praktisch nicht mehr da«, sagte er über die zweite Hälfte der 80er Jahre.
Er trat in die PDS ein, engagierte sich in antifaschistischen Organisationen. Man sah ihn bis ins hohe Alter bei großen und kleinen Veranstaltungen in Berlin. Als die Partei Die Linke immer tiefer in die Krise rutschte, ließ das Victor keine Ruhe. Die Führung wolle nur noch in Parlamenten und Regierungen Politik machen, nicht mehr auf der Straße, sagte er. Auf der Straße aber, in den konkreten Kämpfen, das hatte der junge Kommunist in den 40er Jahren gelernt und nie vergessen, zeigt sich, ob eine Partei tatsächlich »lebendig« ist. Das Wort war ihm in dem Zusammenhang wichtig: Er sehnte sich nach einer »lebendigen«, kämpferischen linken Partei, die die Menschen im Alltag anspricht – und nicht alle vier Jahre kurz vor einem Wahltermin von Plakaten grüßt. Als wir 2023 miteinander sprachen, sagte er, er wisse gar nicht, ob er noch als Mitglied geführt werde. Der Genosse, der immer die Beiträge kassiert habe, sei gestorben.
Am Mittwoch nun ist Victor Grossman im Alter von 97 Jahren in Berlin gestorben. Wieder ist einer gegangen, der fehlen wird. »Wir taten, was wir konnten«, hat er mir gesagt. Bei ihm stimmte es.
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