Ungeschützt und ausgeliefert
Von Eileen Heerdegen
Ein gigantisches UFO über der kargen Bühne, bestückt mit Lautsprechern und Scheinwerfern. Drohendes Unheil, vor allem aber schreit es: Du bist hilflos, ungeschützt, ausgeliefert.
Ein Gefühl, das nicht nur die Menschen überall dort kennen, wo heute Krieg herrscht, und es herrscht heute fast überall Krieg, ein Gefühl, Angst, die gerade mal 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Europa zurückkehrt. Noch gibt es einige, die das Grauen als Kinder erlebt und mit viel Glück überlebt haben, zum Beispiel den sogenannten »Hamburger Feuersturm«, die »Operation Gomorrha« im Juli 1943 mit 30.000 Opfern, viele zu schwarzverkohlten Haufen zusammengeschmort. »Dass das mal Menschen waren, kann man sich gar nicht vorstellen«, erinnert sich die 90jährige Christa.
Der ebenfalls 90jährige Herbert aus einem Dorf bei Wien, der, nachdem der Vater an die Front musste und die Mutter bei der Geburt des Geschwisterkindes gestorben war, mit vier Jahren bei einer Pflegefamilie für seinen Unterhalt arbeiten musste und später Zeuge der Erschießung von Deserteuren wurde, hat gelernt, dass Arbeit alles ist und dass man nie aufmucken darf.
Die von der Ungarin Ágota Kristóf, die heute auch 90 wäre, für ihren autobiographisch geprägten Roman »Das große Heft« erdachten kindlichen Zwillinge haben sich selbst das Therapieziel Härte gesetzt, um den Schmerz von sich fernzuhalten.
»Wir betrachten unsere Mutter. Ihr Kopf hängt in dem Loch, das die Granate gerissen hat. Ihre Augen sind offen und noch feucht von Tränen. Die Eingeweide quellen ihr aus dem Bauch. Sie ist überall rot. Das Baby auch. Es ist immer noch an ihre Brust gedrückt. Sie lässt es nicht los. Großmutter sagt: Holt den Spaten! Dann schaufeln wir das Loch über unserer Mutter zu.«
Ihre selbst auferlegt nüchtern beschriebenen Erlebnisse tragen die Kinder in das namengebende große Heft ein (Nils Kahnwald und Kristof van Boven schaffen, auch dank Maske und Kostüm, überzeugend den Switch in eine verstörte Kindlichkeit voller Angst und Fatalismus), die 29 Kapitel werden jeweils per Glöckchen von der Autorin selbst, gespielt von Julia Wieninger, angesagt. Lebensstationen voller Gewalt; Schläge, Kälte, Hunger bei der asozialen Großmutter und die Entwicklung von Überlebensstrategien: »Wir stinken wie Großmutter. Großmutter nennt uns Hundesöhne! Nach einiger Zeit spüren wir tatsächlich nichts mehr. Es ist jemand anderes, der Schmerzen hat, es ist jemand anderes, der nackt ist, der sich verbrennt, sich schneidet, leidet.«
(Mit-)Erleben von sexueller Gewalt bis zur tödlichen Vergewaltigung und schließlich die Entwicklung eigener Brutalität von Tierquälerei bis zum Mord.
»Ich habe über meine Kindheit im Krieg geschrieben. Und ich wollte so schreiben, dass dem Leser übel wird davon, dass allein der Gedanke an den Krieg ihm grauenhaft erscheint.« Das ist Ágota Kristóf zweifellos gelungen. Ein großartiges Buch, das auf der Bühne allerdings wie eine schauspielerisch illustrierte Lesung wirkt.
»Die Leute sterben immer in den Kellern« – nach einem dramatisch erlebten Luftangriff (»Wir zittern. Wir weinen. Es war das erste Mal, dass wir Angst hatten zu sterben, Mama.«) ein thematisch passender und doch unvermittelter Bruch ins Dokumentarische, der die Handlung bis zur Pause unterbricht: Christa, Walter, Anneliese, Harald, Lissy und Dieter, später mit Standing Ovations für ihre bedrückenden, sehr persönlichen Schilderungen geehrt, haben als damals 3- bis 10jährige die Bombennächte der »Operation Gomorrha« miterlebt. Marione, das jüdische Mädchen, das heute in den USA lebt und daher nur per Audioaufnahme dabei ist, das Kind, das nicht einmal in den Bunker gelassen und selbst einer Kirche verwiesen wurde, und trotzdem ausgerechnet durch diesen Feuersturm vor der Deportation am nächsten Tag gerettet wurde, spricht für alle: »I am a pacifist and an activist for peace and justice because of that experience.«
Direkt vor der Tür des Hamburger Schauspielhauses unter dem Bahnhofsvorplatz befindet sich ein Bunker für 1.600 Personen. Genug Platz für Zuschauer und Mitarbeiter. Alle anderen müssen leider draußen bleiben.
Nie wieder Krieg. Ohne Wenn und Aber.
Nächste Vorstellungen: 27.12., 8.1., 29.1.
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