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Aus: Ausgabe vom 12.12.2025, Seite 12 / Thema
Kafkas Übersetzerin Milena Jesenská

»Diese Art von Leben da«

Fast eine republikanische Hochzeit. Milena Jesenská und Franz Kafka – auch eine intellektuelle Beziehung
Von Sabine Kebir
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Milena Jesenská (1896–1944) war nicht nur die erste Übersetzerin Kafkas, sondern auch eine bedeutende Publizistin, deren Geschichte eng mit dem Schicksal der Tschechoslowakischen Republik verbunden ist (Aufnahme aus den 1920er Jahren)

Milena Jesenská ist ungerechterweise vor allem als Adressatin selbstquälerischer Liebesbriefe Franz Kafkas bekannt. Sie war seine erste Übersetzerin ins Tschechische. Unterbelichtet bleibt meist, dass die 1896 in Prag geborene Autorin – obwohl erst am Anfang ihrer Laufbahn – bereits eine auch von Kafka bewunderte Feuilletonistin war und später zu den bedeutendsten Publizistinnen und Publizisten der Tschechoslowakei gehörte.

Das Liebesverhältnis flammte 1920 nicht zufällig auf. Keine zwei Jahre zuvor war die Tschechoslowakische Republik (ČSR) aus den Trümmern der Habsburger Monarchie entstanden. Kafka trauerte ihr nicht nach. Auch fühlte er sich der tschechischen Welt mehr verbunden als der österreichisch-deutschen. So ungern er überhaupt publizierte, fühlte er sich doch geschmeichelt, als ihn die junge Frau fragte, ob sie seine Erzählung »Der Heizer« ins Tschechische übersetzen dürfe.

Jesenská war leidenschaftlich dem republikanischen Universalismus verbunden. Der patriotische Impetus ihrer Familie – den man heute als antikolonial bezeichnen würde – konnte sich auf einen berühmten Vorfahren berufen, der 1620 nach dem verlorenen Kampf gegen die Habsburger hingerichtet worden war. Dass Jesenská Kafkas Erzählung, die sowohl die ethnische als auch die Klassenhierarchie im Habsburger Reich ad absurdum führte, der tschechischen kommunistischen Zeitschrift Kmen zum Druck anbot, wo sie auch publiziert wurde, zeigt, dass Universalismus, Antiimperialismus und Demokratie – einschließlich Kommunismus – damals in einer Utopie zusammenfließen konnten.

Früh hatte Milena die Mutter verloren. Der Vater, Jan Jesensky, der eine Zahnarztpraxis führte, schickte die Tochter auf ein renommiertes Mädchengymnasium. Schon als abenteuerlustige Jugendliche entkam sie der väterlichen Aufsicht, um allein oder mit Freundinnen durch Prag zu vagabundieren. Die Mädchen besuchten auch die von Intellektuellen frequentierten Caféhäuser. Im Café Arco verliebte sich Jesenská 1916 in Ernst Pollak, einen renommierten Literaturförderer, der in einer Bank arbeitete. Dass die Tochter einen Juden gewählt hatte, konnte der antisemitisch verbohrte Jesensky nicht billigen. Wegen »psychisch krankhaften Fehlens sittlicher Begriffe und Gefühle« ließ er sie im selben Jahr in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Als sie nach neun Monaten entlassen wurde, war sie volljährig und heiratete Pollak. Dieser ließ sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nach Wien versetzen, wo sich seine junge Gattin nicht wohl fühlte. Der Frauenheld Pollak zwang ihr eine »offene Ehe« auf und verweigerte ihr manchmal das Haushaltsgeld. Deshalb fing sie an zu übersetzen und zu schreiben.¹

Wie fremd ihr jeder Anflug von Rassismus war, zeigte sich daran, dass sie Kafka zunächst nicht als Juden wahrnahm. Da er durch den virulent gebliebenen Antisemitismus immer wieder auf sein Judentum verwiesen wurde, verblüffte ihn das sehr.

Von Kafka bewundert

Seit 1919 schrieb Jesenská muntere, aber keineswegs seichte Wien-Feuilletons für die in Prag erscheinende Tribuna. In Wien, das nach dem Ende der Monarchie von den Lieferungen der »Kronländer« abgeschnitten war, herrschte mehr Not als in Prag. Zwar lief der Amüsierbetrieb wie eh und je, aber »dasselbe Wien siecht dahin, stirbt, ist voller Reparationskommissionen, und seine politischen Führer reisen in der ganzen Welt herum, um Hilfe zu erbitten. Die Züge fahren nicht, die Bevölkerung hat kein Brot, kein Mehl, keine Kartoffeln, Post, Telefon, Telegraf, alles funktioniert mit Müh und Not, unglaublich langsam, in Krankenhäusern und Kliniken liegen die Patienten in zerrissener Wäsche.« Am schlechtesten gehe es den Tschechen. »In Böhmen ist unsere Heimat, und hier sind wir gezwungen, die Last anderer mitzutragen (…). Wäre es nicht möglich, für Angehörige der tschechischen Republik die Grenzen ein wenig zu öffnen oder Post und Verkehr zu erlauben?«²

Jesenská schrieb über ihr eigenes und das Alltagsleben einfacher Leute – zum Beispiel ein witziges Porträt ihrer Zugehfrau, eine Ungarin, die wegen der neuen Grenzen ebenfalls nicht heimkehren konnte. Frau Kohler hatte ihr nach einem Selbstmordversuch das Leben gerettet, indem sie ihr eine Woche lang täglich mit verheultem Gesicht und Händen, »die nach Petroleum rochen (…) einen großen schwarzen Knödel in den Mund« stopfte. »Nicht aus Furcht vor dem Tode«, bekannte Jasenská, werde sie keinen Tötungsversuch mehr unternehmen, sondern »aus Furcht vor Frau Kohlers Knödeln«. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne deren Fürsorge zu leben. Das »Abendessen würde mir nicht schmecken, wüsste ich nicht, dass sie den ihr gebührenden Teil gestohlen hat, was sie manchmal, aus Versehen, auch unterlässt. Sobald Sie also mich erblicken, ist Frau Kohler in der Nähe, und sehen Sie Frau Kohler, bin auch ich nicht weit.«³

Zum Reisen zwischen Wien und Prag war nun ein Pass nötig, den Milena und zunächst auch Kafka nicht besaßen. Auch das erschwerte die Beziehung. Kafka sah darin jedoch bald die Rettung vor einer erneut nicht zu bewältigenden Liebesherausforderung. Jesenskás Übersetzungen von sechs weiteren seiner Texte fand er besser als sein Original. Sie übersetzte aber auch andere Autoren: einen Aufsatz von Rosa Luxemburg, einen Essay von Charles Péguy, zwei Erzählungen von Franz Werfel, eine Erzählung von Charles-Louis Philippe und eine Hölderlin-Studie von Gustav Landauer⁴ – auf die Kafkas Briefe manchmal Bezug nehmen.

An Jesenskás eigenen Texten faszinierte ihn, dass sie – ganz anders als er selbst – mit leichter Hand schrieb. Dennoch offenbarten sich Bildung und analytischer Geist, der auch kleinsten Details überraschende Bedeutung geben konnte. Sie aber fürchtete, dass Kafka ihre Texte oberflächlich fände. Nachdrücklich musste er sie bitten, ihre Veröffentlichungen anzukündigen, und manchmal gegen ein von ihr verhängtes Verbot verstoßen, die Zeitungen zu kaufen. Die Tribuna bedeute ihm die »Möglichkeit, jeden Tag etwas von Dir zu finden (…). Ist es Dir unangenehm, wenn ich davon spreche? Aber ich lese es so gern. Und wer soll davon sprechen wenn nicht ich, Dein bester Leser? Schon früher, ehe Du sagtest, dass Du manchmal beim Schreiben an mich denkst, hab ich es mit mir in Beziehung gefühlt, das heißt, an mich gedrückt, jetzt, seitdem Du es ausdrücklich gesagt hast, bin ich darin fast ängstlicher, und wenn ich zum Beispiel von einem Hasen im Schnee lese, sehe ich fast mich selbst dort laufen.« Erst durch die Beschäftigung mit ihren Texten, die er seltsamerweise »Aufsätze« nannte, habe er verstanden, »was für eine raffinierte Sache das Publicieren ist. Du sprichst so ruhig, so vertraulich, so angelegentlich mit dem Leser.« Gegen Ende des Briefwechsels – Kafka schreibt ihr bereits wieder per »Sie« – teilt er mit: »(I)mmer wieder staune ich das Blitzartige Ihres Denkens an, wie sich eine Handvoll Sätze zusammenballt und der Blitz niederschlägt«.⁵

Show, don’t tell

Da nur ein kleiner Teil von Milenas Arbeiten auf Deutsch vorliegt, ist es hier nicht möglich, auf alle einzugehen, auf die Kafkas Briefe anspielen. Festzuhalten ist, dass Jesenská damals bereits über anspruchsvolle Themen der Moderne schrieb, die ihn ebenfalls interessierten, wie das Kino. Den illusionären Charakter der meisten Filme, die stets auf ein Happyend hinauslaufen, legte sie ebenso entschieden wie humorvoll offen.⁶ Scharfsinnig sezierte sie die Unterschiede zwischen US-amerikanischem und deutschem Film. Dem ersteren gelinge es, sowohl Alltägliches als auch besondere Stimmungen durch technisch überzeugende Bildsprache auszudrücken. Aber das »Niveau der amerikanischen Stoffe ist nirgendwo höher als das der Romane von Frau Marlitt. (…) Es gibt keine Gestalten, die gebrochen wären, und keine Brüche, es gibt nicht einmal etwas, woran ein Mensch zerbrechen könnte.« Dem deutschen Film fehle zwar jeder »Sinn für Realität«, er biete aber bessere Schauspielkunst, »löst Probleme, spitzt die Handlung zu, schafft Anfänge, Verwicklungen und Schlüsse«. Allerdings gäbe es einen »Haken: Deutschland zeigt zwar Menschen, aber deutsche Menschen.«⁷

Dass der bereits todkranke Kafka im Februar 1924 noch ihre Begeisterung über Chaplins Film »Eine Frau aus Paris« gelesen hat, ist unwahrscheinlich. Das Werk, schrieb sie, durchbreche »alle Konventionen der Filmwelt«. Die Gestalten seien »echte Menschen. Sie sind weder gut noch böse. Sie sind aber so konsequent ganzheitlich, dass sie tausend Widersprüche haben.« Nicht die »Eigenschaften« eines Menschen seien »richtungweisend« für das, was erzählt wird, »sondern sein Konflikt«. Unverständlich war ihr, weshalb diesem »unermesslich schönen Film« dann doch ein Happyend »angeklebt« worden war. Aber mit der Feststellung: »Welche Keuschheit, nicht zu psychologisieren! Welche Bescheidenheit, nicht zu erklären!«⁸ – benannte sie eine wichtige Parallele zu einem zentralen ästhetischen Prinzip Kafkas.

Sicher aber hat Kafka noch Jesenskás hellsichtiges, im Juli 1922 publiziertes Feuilleton über den aus der industriellen Massenproduktion hervorgehenden Kitsch, zur Kenntnis genommen. Sie meint: »Wer ihn verachtet, ist lächerlich, wie die erhabenen Damen lächerlich sind, die Straßenmädchen verachten.« Kitsch hält sie für eine erste Stufe ästhetischen Bewusstseins, aus der sich ein höheres entwickeln könne. Was in Wien als Kultur der besseren Gesellschaft galt, sah sie nicht als diese höhere Stufe an: Kabaretts seien bis auf Ausnahmen »vulgär«, humoristische Zeitschriften »peinlich und armselig« und »Bars, Tanzsäle und Tingeltangel sind entweder schlecht oder langweilig«. Im Kitsch äußere sich dagegen unmittelbare Lebensfreude.⁹

Ihr unbekümmerter Stil war dem Kafkas zwar geradezu gegensätzlich. Aber auch er war weit davon entfernt, populäre Ästhetik zu verurteilen, hatte gelegentlich selbst Freude an ihr. Um zu verstehen, dass er sogar Jesenskás Modekolumnen mit Interesse las, muss man sich vergegenwärtigen, dass sich der revolutionäre Zeitgeist auch in einer Revolution der Frauenkleidung manifestierte. Jesenská selbst betrachtete ihre zahlreichen Modeartikel vor allem als Verdienstmöglichkeit: »Wenn ich mir am Sonntag meine ›Mode‹ und ›Plaudereien‹ anschaue, wird mir fast schlecht«, schrieb sie Karel Hoch, dem Chefredakteur von Národní Listy (Volkszeitung).¹⁰ Ihren eigenen Geschmack, der praktische, einfache Linien bevorzugte, wird sie erst Mitte der 1920er Jahre vor dem Hintergrund des tschechischen Funktionalismus zum Ausdruck bringen können.

Unerreichbares Eheglück

In einem Fall lässt sich eine Bemerkung Kafkas in direkten Bezug zu einem Text Milenas setzen, in dem sie wohl über seine verunglückten Heiratsversuche, aber auch über die eigene Ehe reflektiert hatte. Es ging um das gesellschaftlich viel diskutierte Problem, weshalb »fast alle heutigen Ehen unglücklich sind«. Sie stellt die Frage umgekehrt: »Warum sollten sie glücklich sein? (…) Zwei Menschen – zwei kleine, vereinsamte, der ganzen Hoffnungslosigkeit, Trübseligkeit und Aussichtslosigkeit des Lebens preisgegebene menschliche Wesen« sollten auf einmal »eingesperrt in eine Wohnung, einen Namen, ein Hab und Gut, ein Schicksal haben, sollen plötzlich und nur deshalb, weil sie zu zweit sind, glücklich sein?«

Die landläufige, mit »Romantik« und »Sentimentalität« verknüpfte Glücksvorstellung hielt sie für »geradeso eigennützig, wie wegen zwei Millionen, eines Autos oder eines Adelstitels zu heiraten«. Warum versprächen sich Menschen von der Ehe etwas, was sie »nicht bekommen können und das niemand je erreichen wird?« Genau betrachtet, sei »gemeinsam zu leben keineswegs leichter, sondern schwerer (…) als allein zu leben«. Wer eine Bindung eingehe, »muss auf alles verzichten, was sie nicht bietet«. Es sei »sehr bequem, von einem Menschen ein Versprechen anzunehmen, das er nicht halten kann, und nach einem Jahr, wenn er es nicht gehalten hat, beleidigt fortzulaufen. Soll eine Ehe einen Sinn haben, muss sie auf eine breitere und realere Basis gegründet sein als die Sehnsucht nach Glück.« Vor der Ehe kenne man womöglich Ideen, Leidenschaften und Anschauungen des Partners, bei weitem aber nicht alle seine Alltagsgewohnheiten oder die Entwicklungen, die er nehmen wird. Menschen, denen es gelinge, gemeinsam zu leben, täten dies nicht »aus rein sexuellen, erotischen, finanziellen oder sozialen Notwendigkeiten«, sondern »um einen Kameraden zu haben, der die Berechtigung ihrer Existenz mit allen Fehlern und Mängeln bestätigt (…) Um jemanden zu haben, bei dem ihnen Strafe, Rache, üble Meinung, Gerechtigkeit, schlechtes Gewissen erspart bleiben.«¹¹

Kafka, der in der Zwischenzeit zum »Sie« zurückgekehrt war, schrieb, er denke »oft an Ihren Aufsatz«. Auch er glaube, »dass es Ehen geben kann, die nicht auf die Verzweiflung des einsamen Seins zurückgehen, und zwar hohe bewusste Eheschließungen (…). Denn diese Eheschließenden aus Verzweiflung – was gewinnen sie? Wenn man Verlassenheit in Verlassenheit legt, entsteht daraus niemals eine Heimat, sondern eine Katorga (russisch: Verbannung mit Zwangsarbeit). Die eine Verlassenheit spiegelt sich in der andern, selbst in der tiefsten dunkelsten Nacht. Und wenn man eine Verlassenheit zu einer Sicherheit legt, wird es für die Verlassenheit noch viel schlimmer (es wäre denn eine zarte, mädchenhaft unbewusste Verlassenheit). Ehe schließen heißt vielmehr, in der Voraussetzung scharf und streng definiert: sicher sein.«¹² Genau das – sicher zu sein, den eigenen Anspruch einlösen zu können – wollte ihm auch Milena Jesenská gegenüber nicht gelingen.

Unfähig zu leben

Jesenskás Briefe an Kafka sind nicht erhalten, weshalb über ihre aktive Rolle in der Liebesbeziehung wenig bekannt ist. Tief berührt von seiner Kunst und seiner außergewöhnlich integren Persönlichkeit, kämpfte sie um diese Beziehung, obgleich sie schnell die Widersprüchlichkeit seines Charakters begriff. Um Aufklärung über seine Lungenkrankheit und das befremdliche Verhalten des Geliebten zu erlangen, wandte sie sich am 21. Juli 1920 brieflich an Kafkas Freund Max Brod. Was hatte es mit der »Angst« auf sich, die aus allen seinen Briefen sprach? Sie bat um Mitteilung, ob er »meinetwegen körperlich leidet«. Im nächsten Brief an Brod vom 29. Juli dankte sie ihm für die Erklärung, »dass Frank doch etwas aus mir hat und von mir hat, etwas Gutes«.

Im Herbst wolle sie nach Prag kommen, um Kafka zu bestärken, endlich eine Lungenkur zu beginnen. Aus einem Brief vom 20. August geht hervor, dass Brod ihr geschrieben hatte, Kafka fürchte sich vor der Liebe, nicht aber vor dem Leben. Milena setzte dagegen, er sei gänzlich lebensuntüchtig und erzählte von seinem bizarren Umgang mit Geld, der zwischen extremer Kleinlichkeit und extremer Großzügigkeit pendelte. »Frank hat nicht die Fähigkeit zu leben. Frank wird nie gesund werden. Frank wird bald sterben.« Er sei »kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Ziel konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsichtigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiss, zur Askese gezwungen ist. (…) Seine Bücher sind erstaunlich. Er selbst ist viel erstaunlicher.«

Nachdem Kafka verlangt hatte, den Briefwechsel einzustellen und von Treffen ein für allemal abzusehen, weil nur das ihm »irgendein Weiterleben ermöglichen« könne, »alles andere zerstört weiter«, schrieb sie Brod einen auf Anfang Januar 1921 datierten verzweifelten Brief auf tschechisch. Ihre »an den Grenzen des Wahnsinns« pulsierenden Emotionen vermochte sie nur in ihrer Muttersprache wiederzugeben. Noch einmal wollte sie wissen, »ob auch unter mir Frank leidet und gelitten hat wie unter jeder anderen Frau, so, dass seine Krankheit ärger wurde, so, dass er auch vor mir in seine Angst fliehen musste und so, dass auch ich jetzt verschwinden muss, ob ich schuld daran bin oder ob es eine Konsequenz seines Wesens ist.« Seit Monaten sei die Briefverbindung abgebrochen.

In einem späteren, auf den Januar oder Februar 1921 zu datierenden Brief an Brod findet sich die wohl historisch erste Formulierung eines Zusammenhangs zwischen Kafkas Angstsyndrom, das sich auch auf seine Beziehungen zu Frauen erstreckte, und seiner Krankheit – ein psychosomatischer Nexus, dem sich Brod und ein großer Teil der späteren Forschung anschließen wird. Kafka-Biograph Reiner Stach führt aus, dass bereits Kafka selbst in der »Tuberkulose eine über die eigenen Ufer tretende geistige Krankheit«¹³ seines Wesens sah. Jesenská setzte einen anderen Akzent. Sie erkannte einen zerstörerischen Zusammenhang zwischen Kafkas Psyche und der Heillosigkeit der Welt, auf die er als Autor konsequent und sein Körper mit Krankheit reagierte.

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»Schon früher, ehe Du sagtest, dass Du manchmal beim Schreiben an mich denkst, hab ich es mit mir in Beziehung gefühlt.« Franz Kafka (1883–1924)

Sie sei »etwas zur Besinnung« gekommen, ohne, dass es ihr besser gehe, schreibt sie. Wieder geht sie auf Kafkas »Angst« ein, die er in vier glücklich zusammen verbrachten Tagen vollständig verloren hätte. Die Angst beziehe sich »auf alles, was schamlos lebt, auch beispielsweise auf das Fleisch. Das Fleisch ist zu enthüllt, er erträgt nicht, es zu sehen. Das also habe ich damals zu beseitigen vermocht. Wenn er diese Angst spürte, hat er mir in die Augen gesehen (…) und nach einer Weile ist es vergangen.« Auf langen Spaziergängen habe er kein einziges Mal gehustet, seine Krankheit machte sich nur »wie eine kleine Erkältung« bemerkbar. Damals hätte sie jedoch Pollak nicht verlassen können.

Erstaunen und Spott

Wäre Jesenská Kafka nach Prag gefolgt, »so hätte er mit mir glücklich leben können«. Ihr habe aber die Kraft gefehlt, »mich diesem Leben zu unterwerfen, von dem ich wusste, dass es strengste Askese bedeuten würde, auf Lebenszeit«. Abgehalten habe sie »eine unbezwingbare Sehnsucht (…) nach einem Leben mit einem Kinde. Und das hat also wohl in mir über alles andere gesiegt, über die Liebe, über die Liebe zum Flug, über die Bewunderung und nochmals die Liebe. (…) Und da ist dieser Kampf in mir zu deutlich sichtbar geworden und das hat ihn erschreckt.« In den vier Wiener Tagen habe »er sich ausruhen können. Aber dann hat es begonnen, ihn auch bei mir zu verfolgen. (…) Ich war zu schwach, als dass ich das hätte tun und erfüllen können, wovon ich gewusst habe, dass es einzig und allein ihm geholfen hätte.«

Milena hatte erkannt, dass Kafkas »Angst« auch in der für ihn unüberwindbaren Unfähigkeit lag, Verantwortung für eine Familie zu tragen. Sie warf ihm das nicht vor, sondern gab ihm sogar recht. Er wisse »von der Welt zehntausendmal mehr als alle Menschen der Welt« und »seine Angst war richtig«. Sie wiederum wisse, »dass er sich nicht gegen das Leben wehrt, sondern gegen diese Art von Leben da«. Während sie sich zu solchen Erkenntnissen hinarbeitete, war sie mit Übersetzungen weiterer Texte Kafkas beschäftigt und teilte Brod mit, wie »grässlich« es war, »so verlassen zu sein und an seinen Büchern zu arbeiten«.¹⁴

Im dreieinhalb Jahre später verfassten Nachruf auf Kafka erklärte Jesenská die Bücher des immer noch weiterhin unbekannten Autors »zum Bedeutendsten der jungen deutschen Literatur«. In ihnen sei »der Kampf der heutigen Generation enthalten, jedoch ohne tendenziöse Worte. Sie sind so wahrhaft, nackt und schmerzlich, dass sie selbst dort, wo etwas symbolisch ausgedrückt wird, naturalistisch wirken. Sie sind voller trockenen Spotts und empfindsamen Erstaunens eines Menschen, der die Welt so klar gesehen hat, dass er das nicht ertrug und sterben musste, denn er wollte nicht zurückweichen und sich wie andere in irgendwelche, wenn auch subjektiv ehrliche, unbewusste intellektuelle Irrtümer retten.«¹⁵

Anders als Kafka, wird Milena Jesenská gegen »diese Art von Leben« kraftvoll politisch aktiv werden. Sie engagierte sich für die demokratische Entwicklung der Tschechoslowakei und im antifaschistischen Widerstand. Am 17. Mai 1944 starb sie im KZ Ravensbrück.

Anmerkungen

1 Dorothea Rein: Biographische Skizze. In: Milena Jesenská: Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919–1938. Frankfurt/M. 1996, S. 232

2 Tribuna, 30.12.1919. In: ebd., S. 11 ff.

3 Meine Freundin. In: ebd., S. 25 ff.

4 Otto F. Babler: Frühe tschechische Kafka-Publikationen. In: Franz Kafka aus Prager Sicht (Materialien der Kafka-Konferenz, Liblice 1963). Prag 1965, S. 150

5 Franz Kafka: Briefe an Milena. Frankfurt/M./Hamburg 1970, S. 102, 109, 158, 145 u. 201

6 Tribuna, 15.1.1920. In: Jesenská: Alles ist Leben (Anm. 1), S. 17 ff.

7 Amerika contra Deutschland, Národní Listy, 7.4.1923. In: ebd., S. 88 ff.

8 A. X. Nessey (Milena Jesenská): Eine Frau aus Paris von Charlie Chaplin (Narodní Listy, 22.2.1924) ebd., S. 100–103

9 Lob des Kitsches, Tribuna, 28.7.1922, ebd., S. 70 ff.

10 Jesenská an Karel Hoch (Wien 1924). In: Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang. Die Briefe von Milena, hg. v. Alena Wagnerová. Frankfurt/M. 1999, S. 75

11 Der Teufel am Herd, Národní Listy, 18.1.1923. In: Jesenská: Alles ist Leben (Anm. 1), S. 80 ff.

12 Kafka: Briefe an Milena (Anm. 5), S. 203 f.

13 Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt/M. 2011, S. 416

14 Jesenská: Briefe an Max Brod. In: Ich hätte zu antworten (Anm. 10), S. 43–50

15 Franz Kafka, Národní Listy, 6.6.1924. In: Jesenská: Alles ist Leben (Anm. 1), S. 104 f.

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. Juli 2025 über Libyen Ende der 1980er Jahre: »Eine Nation im Umbruch«.

Lesen Sie über die Weihnachtsfeiertage Sabine Kebirs dreiteilige Serie über die tschechische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin Milena Jesenská.

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