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Aus: Ausgabe vom 09.12.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Das Recht, Rechte zu haben

»Arendt. Denken in finsteren Zeiten«: Eine Annäherung an Hannah Arendt von Rhea Leman im Thalia-Theater Hamburg
Von Eileen Heerdegen
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»Je oberflächlicher jemand ist, desto eher wird er sich dem Bösen ergeben. Das ist die Banalität des Bösen.« – Hannah Arendt

Sehr geehrte Damen und Herren, seitdem ich die recht überraschende Nachricht erhielt, dass Sie mich ausgewählt haben, den Sonning-Preis in Anerkennung meines Beitrags zur europäischen Zivilisation zu empfangen, habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich antworten und dazu sagen könnte.«

Corinna Harfouch ist Hannah Arendt, 1975 in Kopenhagen am Vorabend der Preisverleihung auf einem Hotelbett, lässig, barfuß, aber im eleganten dunklen Kostüm, auf der Suche nach Worten.

Die richtigen Worte, den richtigen Ton hat sie nicht immer gefunden. Für ihre berühmteste Arbeit, Reportagen und das Buch über den Eichmann-Prozess, »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen« (1963), hat Arendt erhebliche Kritik einstecken müssen, ist möglicherweise missverstanden und sicher verunglimpft worden. Dass sie mit Eichmann einen der Verantwortlichen für den Tod von sechs Millionen Juden als Hanswurst und Bürokraten sieht, ihm den Monsterstatus nicht zugesteht und somit das Böse auf Normalniveau bringt, wird ihr als Verharmlosung ausgelegt.

Am Ende gar der verbitterte Vorwurf, sie, die dem Holocaust nur knapp entkam, habe »keine Liebe zum jüdischen Volk«. In der Tat, sich bewusst als Jüdin zu wehren war ihr so selbstverständlich wie die Arbeit in und für zionistische Organisationen während der Nazizeit und im Krieg, aber ebenso selbstverständlich waren ihre Bedenken zur Gründung des Staates Israel, ihr Eintreten für alle, nicht nur jüdische, Flüchtlinge. So antwortet sie ihrem guten Freund Gershom Scholem ehrlich, aber auch deutlich verletzt und trotzig: »Sie haben vollkommen recht, dass ich eine solche ›Liebe‹ nicht habe, und dies aus zwei Gründen: Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ›geliebt‹, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiß, dass es irgendwie zu meiner Substanz gehört.«

Menschenrechte gelten für Hannah Arendt global und sind nicht an Nation oder Volk gebunden, sie sind das »Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird«. Ihr kompromissloses, bewusst ideologiefreies (soweit so etwas möglich ist) Einstehen für Wahrheit und Gerechtigkeit ist wohl aber nicht der Grund, dass die politische Theoretikerin Arendt (die Bezeichnung »Philosophin« lehnte sie für sich ab) 50 Jahre nach ihrem Tod auf dem Weg zum Popstar ist. So ist es paradoxerweise eher die Suche nach einfachen Wahrheiten – missachtet man die Komplexität ihrer Gedanken, kann sich jeder »seine Hannah« zusammenbasteln, wie beispielsweise der Grünen-Politiker Winfried Kretschmann, der ausgerechnet seine »Lieblingsphilosophin« bemühte, um sein hässliches Wendemäntelchen bei »Stuttgart 21« schönzureden.

Die Frau auf dem Hotelbett kommt nicht recht weiter, schweift immer wieder ab, führt (Selbst-)Gespräche mit ihrem längst verstorbenen Ehemann. »Heinrich Blücher. Er Kommunist, ich Jüdin. Zwei Deutsche in Paris, die keiner will, die aber einander wollen. Gemeinsame Freunde stellen uns vor, und sofort befinden wir uns in einem lebhaften Gespräch. Dieses Gespräch hat seitdem nicht mehr aufgehört.«

Aus der angrenzenden Toilette stinkt und stört immer wieder Adolf Eichmann (Oliver Mallison) mit heruntergelassenem Feinripp. Wie ein Dybbuk, den sich Arendt ihr ganzes späteres Leben vom Leib halten muss. Die Toilette wird später zur Glaskabine im Prozess, das Bühnenbild von Jo Schramm bietet mit schräger Ebene und Videoprojektionen einiges zwischen Zurückhaltung und Aufwand.

Nach der Sonning-Rede (die Auszeichnung ist übrigens Dänemarks Antwort auf den schwedischen Nobelpreis) hat Hannah Arendt noch ein halbes Jahr, sie stirbt 69jährig am 4. Dezember 1975 in New York. Eine gute Gelegenheit also, auf Anfang zu gehen, auf den Anfang vom Ende: 1933.

Geboren 1906 in Linden (heute ein Stadtteil Hannovers), aufgewachsen in Königsberg (heute Kaliningrad), mit 14 schon Kant und Kierkegaard gelesen, nebenbei Altgriechisch gelernt, später im Hauptfach Philosophie studiert, unter anderem in Marburg auch bei ihrem Geliebten Martin Heidegger, war der jungen Frau bereits 1931 klar, was kommen würde. 1932 dachte sie an Emigration, entschied sich dann aber für zionistische Untergrundarbeit und wurde 1933 verhaftet. Mit ihrem burschikosen Charme, den man noch 31 Jahre später in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus (bei Youtube abrufbar und unbedingt sehenswert) bewundern kann, kann sie den verhörenden Polizisten zur Freilassung bewegen, anschließend gelingt die Flucht über Umwege nach Paris. Eine atemlos wackelnde Kamera, grelle Nachtaufnahmen und laute Waldgeräusche machen die Angst erfahrbar. »Es war die finsterste Nacht, die ich je erlebt habe … und trotzdem konnte ich etwas sehen. Es war die Nacht, in der ich Deutschland verließ.«

»To see in darkness« ist auch der passende englische Untertitel des Stückes der US-amerikanisch-dänischen Autorin, sehr viel treffsicherer als »Denken in finsteren Zeiten«. Sehen, Erkennen, hat eine andere Dimension.

Erst zum berühmten Eichmann-Prozess wird Corinna Harfouch live mit Maske und Perücke auch äußerlich zur nun öffentlich bekannten Hannah Arendt. Die bis dahin oft heitere Stimmung des Stücks mit viel Musik und sogar kleinem Revue-Einschub wandelt sich, kippt. André Szymanski in einer Doppelrolle als Heinrich Blücher und Gideon Hausner überzeugt hier vor allem als zynischer Staatsanwalt und Chefankläger.

Schließlich Hannah Arendt und der vielleicht erste bekannte Shitstorm der Geschichte. Hatte sie recht? Die deutschsprachige Erstaufführung am Hamburger Thalia-Theater (Regie: Tom Kühnel) ist ein guter Ausgangspunkt, sich selbst dieser Frau anzunähern.

Hatte sie Zweifel? Vielleicht. Ein bewegender Moment zum Schluss, die später mit Standing Ovations bejubelte Corinna Harfouch und ein Lied von Funny van Dannen: »Wo kommen die Gedanken her / was wollen sie von mir / wenn sie morgen wiederkommen / bin ich nicht mehr hier«.

Nächste Aufführungen: 10., 17. und 18. Dezember 2025

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