Ungehalten und laut
Von Gitta Düperthal
Mit ihrem Buch hat alles angefangen: 1983 erschien Christine Brückners Werk »Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen«. Jetzt sei es wieder en vogue; die Jüngeren kauften wie wild das Buch, zeigte sich Helen MacCormac Ende vergangener Woche im Gespräch mit jW erfreut. Woran das an das Werk Brückners anknüpfende Projekt »Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen« nicht ganz unschuldig sei, so die Literaturübersetzerin und Germanistin. Es feiert am 10. Dezember, dem Geburtstag der Schriftstellerin, im Kasseler Rathaus seinen fünften Jahrestag. Zusammen mit Maya Alou kuratiert MacCormac im Leitungsteam eingesandte Redemanuskripte und Videos für die zehnminütigen Vorträge.
Sechs prämierte Rednerinnen werden an jenem Tag unter dem Titel »Wut, Wut, Mut« ihren emanzipatorischen Worten freien Lauf lassen. Aus Anlass des 100. Geburtstags Brückners, deren Bücher teils Millionenauflagen erreichten, schicken seit 2021 jedes Jahr meist mehr als 100 Frauen zwischen 15 und 86 Jahren Bewerbungen ein. In diesem Jahr konnte die Jury unter 213 Vortragenden auswählen, freut sich MacCormac: »Toll, dass sich auch junge Frauen begeistern, das Wort zu ergreifen: Einige sind wütend, andere mutig, oder sie feiern in ihren Reden etwas.«
Ob es um Weiblichkeit, das Mutter- oder Elternsein, den Paragraphen 218, die Long-Covid-Aufarbeitung oder Migrationshintergrund geht: Wichtig sei, dass das Anliegen gesellschaftliche Relevanz habe, die Vortragende dafür brenne. Auch leichtere, unterhaltsame Themen seien willkommen, die Art der Präsentation spiele eine Rolle. Über die Vortragenden und ihre Themen in diesem Jahr möchte MacCormac noch nichts verraten. Es sei ein spannender Prozess, wenn Frauen sich ermächtigen, eine Rede zu halten. »Das macht etwas mit ihrer Persönlichkeit.« Sich das zu trauen mache selbstbewusst, könne im Leben etwas verändern.
Vor allem aber können Zuhörende Unerschrockenes oder auch Unerwartetes erfahren. So etwa trug Alina Mathias im Kasseler Rathaus 2024 eine denkwürdige Rede an Menschen »ohne Behinderung« vor, in der sie diesen den Spiegel vorhielt. Daraus ging auf bemerkenswerte Weise – in Umkehr der üblichen Opferperspektive – hervor, wie verletzend und mitunter seltsam Verhaltensweisen der sich als Norm sehenden Mitmenschen sein können: geschildert all dies aus der Beobachtung, Lebensweisheit und -erfahrung einer ungehaltenen Frau, die weiß, wie mit Mut und Esprit ein Leben mit Einschränkungen funktionieren kann – hochpolitisch, spitzzüngig und zugleich humorvoll. In diesem Jahr war Mathias Teil der Jury und hat die besten sechs Reden mit ausgewählt.
Vieles mag amüsant oder grotesk erscheinen, doch diese Rednerinnen sind ihrer Zeit mitunter weit voraus. Wie im Fall des historischen Vorbilds Christine Brückner. Sie versetzte sich in ihren Monologen, von denen einer auch von ihr selbst gehalten wird, in die Gedankenwelt von Frauen, von denen sie meinte, dass sie nicht genug geredet hätten. So deutet es der Titel an – und Brückner hat sie zum Sprechen gebracht. Etwa die RAF-Kämpferin Gudrun Ensslin in ihrer »Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle«. Die am 18. Oktober 1977 im Gefängnis Verstorbene spricht in »Kein Denkmal für Gudrun Ensslin« gegen das Schweigen an, gegen Imperialismus und die erstarrten bürgerlichen und männlichen Machtstrukturen, durchlebt den verlorenen Kampf.
Hinter dem Projekt steht die Stiftung Brückner-Kühner, 1984 von den miteinander liierten Autoren Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner ins Leben gerufen. Als beide Autoren im Herbst 1996 kurz nacheinander verstarben, hinterließen sie der Stiftung Erbe und Nachlass, um so die Literatur zu fördern. Später sei dann die Stadt Kassel zur Finanzierung eingesprungen, so MacCormac. Es kooperieren die Stiftung, der Verlag S. Fischer Theater und Medien, das Archiv der deutschen Frauenbewegung, die Stadt Kassel und der Hessische Rundfunk.
Die »ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen« können per Livestreaming aus dem Rathaus in Kassel mitverfolgt werden. Wie in vergangenen Jahren wird der Verlag S. Fischer einen Band mit einer Auswahl der besten Reden herausgeben. Zum Internationalen Frauenkampftag erschien in diesem Frühjahr die dritte Sammlung unter dem Titel »Ich bin viele«: Die Ausschreibung für kommende ungehaltene Rednerinnen, die am 8. März im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main ihre Stimme erheben können und sollen, läuft.
Reden und Livestream: ungehalten.net
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