Wundertüte Diego
Von Frederic Schnatterer, Buenos Aires
Diego ist vieles. Es ist Samstag vormittag, gerade einmal zehn Uhr. Verschlafene Gesichter – Matebecher in der Hand, Thermoskanne unter dem Arm – suchen am Eingang der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires Orientierung. Eine ältere Frau sagt: »Die Veranstaltung wurde in Raum 330 verlegt.« Eine jüngere, augenscheinlich die Tochter, trägt das geld-blaue Trikot der Boca Juniors, die Rückennummer zehn. Sie nickt und hakt sich unter.
An der Fassade des etwas in die Jahre gekommenen Fakultätsgebäudes hängen Transparente mit dem Konterfei von Diego Armando Maradona. Künstlerisch variiert, farbenfroh, bewerben sie den internationalen Kongress zum Ausnahmefußballer und Nationalhelden Argentiniens. An drei Tagen diskutieren hier Experten und Interessierte über Diego und Feminismus, Diego und Gewerkschaften oder Diego und Religiosität. Maradona ist ein bisschen wie eine Wundertüte, in der für jeden etwas zu finden ist. Auch darin liegt das Geheimnis seines Erfolgs.
Diego ist auch ein Montag abend im bonaerensischen Viertel La Paternal. Der Duft von gegrillter Chorizo liegt in der Luft. Es ist bereits dunkel, die Temperaturen aber sind schon frühlingshaft angenehm. Die Straßen rund um das Stadion des Klubs Argentinos Juniors füllen sich, je näher der Anstoß des Fußballspiels rückt: rote Trikots, manche mit weißem Streifen, die meisten beflockt mit der 10. Hier feierte Maradona zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag sein Debüt als Profikicker. In 166 Partien schoss er 116 Tore.
Heute trägt das Stadion des Erstligavereins aus Buenos Aires den Namen des späteren Weltmeisters. Im Inneren einer Tribüne wurde nach Maradonas Tod ein Schrein eingerichtet. Fans aus aller Welt huldigen dort dem Ausnahmefußballer und lassen Devotionalien wie Schals, Trikots oder Aufkleber zurück. Von einer Vielzahl der Häuserfassaden von La Paternal blickt der vor fünf Jahren Verstorbene in Form eines Wandgemäldes auf die Bewohner des Viertels, das sich selbst den Spitznamen »die Erde Gottes« gegeben hat. Mit Gott, das versteht sich von selbst, ist Maradona gemeint.
Von 1976 bis 1981 spielte Diego bei den Argentinos Juniors. Von 1978 bis 1980 lebte er mit seiner Familie vier Blocks vom Stadion entfernt. Heute beherbergt das Häuschen ein Museum. La Casa de D10S, das Haus Gottes – in Anlehnung an die Rückennummer, die zu seinem Markenzeichen wurde, auch wenn er beim Bicho auch unter anderen Nummern aufgelaufen war. Alltagsgegenstände von damals, angeblich original, dazu Erinnerungskitsch sollen den Besuchern ein Gefühl davon vermitteln, wie das Leben Maradonas zu der Zeit ausgesehen hat.
Diego ist der »Pibe« aus Villa Fiorito, der einfache Junge aus dem Armenviertel im Speckgürtel von Buenos Aires. Der blieb er bis zu seinem Ende. Der Umzug der gesamten Familie – Diego plus seine sieben Geschwister und seine Eltern – nach La Paternal bedeutete einen beachtlichen sozialen Aufstieg. Und die glorreichen Jahre der Karriere des Goldjungen standen erst noch bevor. Die seines Absturzes, der letztlich zu seinem frühen Tod führte, ohnehin.
Fünf Jahre ist es her, dass Maradona leblos in seinem Bett aufgefunden wurde. Gerade einmal 60 Jahre alt, mit aufgedunsenem Bauch, das Herz mehr als ein halbes Kilo schwer. Mitten in der Coronapandemie wurde der Leichnam des Nationalhelden in Buenos Aires ausgestellt. Abertausende standen Schlange, um sich von ihm zu verabschieden. Die Journalistengewerkschaft der argentinischen Hauptstadt, Sipreba, verschob ihren schon länger geplanten Streik für eine Gehaltserhöhung; vielen Journalisten war die Berichterstattung über das Ableben Maradonas zu wichtig. Diego ist vielleicht sogar wichtiger als Klassenkampf.
An seinem fünften Todestag werden im Zentrum von Buenos Aires erneut Kundgebungen stattfinden, auf denen »Gerechtigkeit für Gott« gefordert wird. Wann diese geben wird, ist derzeit fraglich. Im März hatte ein Prozess begonnen, in dem die Todesumstände Maradonas geklärt werden sollten. Eventuell am frühen Ableben des Exfußballers Verantwortliche sollten ausgemacht werden – und nach dem Willen der Fans und praktisch aller Argentinier bestraft. Fragen danach, warum Maradona sich zum Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Krankenhaus befand, weshalb er welche Medikamente bekam und ob möglicherweise jemand ein finanzielles Interesse an seinem Heimaufenthalt hatte, sollten vor einem Gericht in San Isidro in der Provinz Buenos Aires verhandelt werden.
Seit Mai jedoch pausiert der Prozess. Der Grund: Die vorsitzende Richterin, Julieta Makintach, spielte nebenher die Hauptrolle in einer Dokumentation über den Prozess. Der Name der geplanten Doku: »Göttliche Gerechtigkeit«. Anfang November entschied die argentinische Justiz, Makintach habe wie eine Schauspielerin, nicht wie eine Richterin gehandelt. Neben ihrer Absetzung vom Fall Maradona verfügte die zuständige Strafkammer außerdem, die 49jährige lebenslang von jeglicher richterlicher Tätigkeit auszuschließen. Die Töchter des Toten, Dalma und Gianinna Maradona, forderten Ende der vergangenen Woche die sofortige Verhaftung von Makintach.
Im März kommenden Jahres soll der Prozess wieder aufgenommen werden, am selben Ort, aber mit anderen Richtern. Den Angeklagten – Maradonas Psychiater, Pflegekräfte, Ärzte, insgesamt sieben Personen – wird von der Staatsanwaltschaft vorsätzliche Tötung vorgeworfen. Darauf stehen in Argentinien zwischen acht und 25 Jahre Haft. Bis zum Urteilsspruch wird es also noch dauern. Derweil bleibt nur festzuhalten, dass Diego fehlt.
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vom 25.11.2025