Ein erfrischender Sturm
Von Manfred Weißbecker
Mächtig rumorte es nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland: Empörung machte sich breit über offenkundige sozialpolitische Ungerechtigkeit. Da gab es auf der einen Seite ein enorm großes Vermögen der Fürstenhäuser. Obwohl in der Novemberrevolution von 1918/19 entthront, musste kein Blaublütiger am Hungertuche nagen. Im Gegenteil: Verbliebene Besitztümer und einige Entschädigungen erlaubten ein Leben, das sich himmelweit von dem jener sieben bis acht Millionen Deutschen unterschied, die sich am Rande der von Zeitgenossen errechneten Hungergrenze befanden. Kein Wunder, dass da der Wunsch laut wurde, dies auch mit den in der Weimarer Verfassung gebotenen demokratischen Möglichkeiten einer direkten Befragung des Volkes zu ändern.
Darüber wurde intensiv debattiert. Schließlich kam der Stein ins Rollen, als am 25. November 1925 Reichstagsabgeordnete der KPD einen Gesetzentwurf zur entschädigungslosen Enteignung der deutschen Fürsten vorlegten. Es entbrannte ein intensives Ringen um das Volksbegehren, das verfassungsgemäß einem Volksentscheid vorauszugehen hatte. Es nahm rasch den Charakter einer politischen Auseinandersetzung um grundlegende gesellschaftspolitische Fragen an. Auf der Tagesordnung standen nicht allein Durchsetzung und Sicherung von demokratischen Grundrechten, fixiert in Weimars Grundgesetz. Es ging darüber hinaus und vor allem um eine Klärung der generellen Frage, wie angesichts bestehender Eigentumsverhältnisse ein vertretbares Maß an sozialer Gerechtigkeit erreicht werden kann.
Breite Massenbewegung
Der Weg zum Volksbegehren begann, als sich die Wahlberechtigten vom 4. bis zum 17. März 1926 in die Listen einschreiben konnten, um mit mindestens zehn Prozent ihrer Stimmen den Gesetzentwurf zur Fürstenenteignung in den Reichstag zu bringen. Dabei leisteten die Initiatoren und Organisatoren ein Vierteljahr angespannteste Arbeit mit Erfolgen und Misserfolgen. Manchem Schritt voran folgte einer zurück. Die Schar der Mitstreiter wuchs, neue Formen des Kampfes wurden gefunden und aktiv tätige Netzwerke geschaffen. Die organisierte Arbeiterbewegung stieß dabei oft auf Möglichkeiten, allzu starre Grenzen zwischen ihren Parteien und Verbänden zu überwinden, doch zugleich auch auf vielfache Versuche ihrer Gegner, ein gemeinsames Vorgehen zu verhindern.
Zu Beginn des Jahres 1926 entstand ein vom »Deutschen Friedenskartell« initiierter und von den Arbeiterparteien unterstützter Ausschuss, der für einen Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten eintrat. Ihm gehörten weit über 40 Organisationen an, darunter die Deutsche Liga für Menschenrechte, die Internationale Liga für Frieden und Freiheit – Deutscher Zweig, der Deutsche Pazifistische Studentenbund, die Freie Aktivistische Jugend Deutschlands, der Bund für radikale Ethik, der Volksbund für Geistesfreiheit und der Deutsche Monistenbund. Den Vorsitz übernahm der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und engagierte Politiker Robert René Kuczynski. An der intensiven Arbeit des Ausschusses beteiligten sich zahlreiche demokratisch-republikanisch gesinnte Publizisten, darunter Hellmut von Gerlach, Otto Lehmann-Rußbüldt, Ludwig Quidde und Helene Stöcker.
Zudem entstand ein »Staatsbürgerlicher Ausschuss zur Förderung des Volksbegehrens«. Zu ihm gehörten der Vertreter der Deutschen Demokratischen Partei, Otto Nuschke, bekannte Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler wie Albert Einstein, Siegfried Jacobsohn, Käthe Kollwitz, Paul Oestreich, Max Pechstein, Erwin Piscator, Kurt Tucholsky und Heinrich Zille. Das Volkswohl stehe über dem Fürstenvorrecht, wurde verkündet. Auch der Bund religiöser Sozialisten Deutschlands, dem der Pfarrer Erwin Eckert vorstand, und die von Vitus Heller geleitete Christlich-Soziale Reichspartei unterstützten das Anliegen. Sie handelten ihrem christlichen Gewissen entsprechend und forderten, dass es beim Volksbegehren um Wichtigeres gehe als um »den Mammon der Fürsten«. Es sei Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Viele Künstler schufen eindrucksvolle Plakate, Grafiken, Karikaturen und Fotomontagen. Darunter waren: Alfred Beier, Otto Dix, George Grosz, John Heartfield und Otto Nagel.
In die Listen des Volksbegehrens trugen sich zwischen dem 4. und dem 17. März 1926 rund 12,5 Millionen Wahlberechtigte ein. Wesentlich mehr als erforderlich, denn nach Artikel 173 der Verfassung hätte bereits ein Zehntel der Stimmberechtigten den Volksentscheid durchsetzen können. Damit war der Weg zum Volksentscheid frei. Ein erfrischender Märzsturm sei über das Land gebraust, notierte der Publizist und Geschäftsführer des von Kuczynski geleiteten Ausschusses Emil Rabold in der Weltbühne vom 30. März.
Als dann am Abend des 20. Juni 1926 die Wahllokale schlossen, endete eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Weimarer Republik. Knapp 15,6 Millionen der Stimmberechtigten hatten sich an einem Volksentscheid beteiligt – 39,3 Prozent aller Wähler. Von ihnen hatten 14,5 Millionen mit Ja gestimmt. Das Ergebnis: Trotz großer Beteiligung kein Sieg, für den die Zustimmung von 50 Prozent aller Wahlberechtigten erforderlich gewesen wäre. Wohl aber bot der Volksentscheid bedeutsame Erkenntnisse für weitere Auseinandersetzungen um soziale Gleichberechtigung und demokratische Rechte.
Die Kraft einer von sozialistischen und bürgerlich-demokratischen Gruppen organisierten Volksbewegung hatte nicht ausgereicht, um sich gegen jenen Block durchsetzen zu können, der sich auf der rechten Seite der deutschen Gesellschaft zuvor bereits für die Wahl des Erzreaktionärs Hindenburg zum Reichspräsidenten engagiert und nun eine regelrechte »Abwehrschlacht« gegen das Ansinnen geführt hatte, in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft zumindest einige Eigentumsverhältnisse zu ändern.
Rechte Diffamierungen
Ja, es glich einer Schlacht, die deutsche Rechtskräfte geführt haben. An ihr beteiligten sich die großen bürgerlichen Parteien, selbstverständlich alle Adelsverbände, ebenso die zahlreichen paramilitärischen und vaterländischen Verbände sowie die Kirchen. Trotz aller Querelen untereinander erreichten die Entscheidungsgegner ein hohes Maß an Einheitlichkeit, wovon auch die am 15. April 1926 erfolgte Gründung eines »Arbeitsausschusses gegen den Volksentscheid« zeugte. Ihm gehörten die DNVP, die DVP, die Deutschvölkische Freiheitspartei, die Wirtschaftspartei, der Stahlhelm, der Reichslandbund, der Tannenbergbund, die Deutsche Industriellenvereinigung und die Vaterländischen Verbände an.
Gemeinsam konzentrierte man sich auf ein Feindbild: Ständig wurde, fälschlich und für Verwirrung in den Reihen der Fürstengegner sorgend, von einer »kommunistischen« Aktion geredet. Jeder, der sich am Volksentscheid beteilige, sei als Befürworter der KPD zu erkennen und werde »registriert«. Hinter der Idee des Volksentscheids stünde eine bolschewistische »Auszehrungsparole«. Sollte das Volksbegehren erfolgreich sein, würden »Pogrome zur Enteignung des Gesamtbesitzes« folgen. Alter russophober Argumentation folgend und den Spruch aufgreifend, wonach man am »Russen« kratzend den »Tataren« erkenne, hieß es: »Kratzt am Volksbegehren, und ihr werdet auf den Bolschewismus stoßen.«
Alles verband sich mit Panikmache. Es hieß, ein Zusammenbruch des Staates stünde bevor. Und es fehlte auch nicht an auf die Zukunft orientierenden Argumenten: Es müsse für die »Staatserhaltung« ein klarer »Führerwille« da hervortreten, wo »Volksbegehrlichkeit anderes Handeln zu erheischen scheint«.
Wider die Ausraubung
Nach der Revolution, als die Arbeiter und Soldaten die Macht dazu hatten, ist die sofortige entschädigungslose Enteignung in unverzeihlicher Weise mit Rücksicht auf die bürgerlichen Parteien versäumt worden. (…) Es wäre eine Schande für die Arbeiterschaft, wenn sie diesem Plünderungszug gegen die werktätige Bevölkerung tatenlos zusieht. Wir halten es für notwendig, daß alle Kräfte der organisierten Arbeiterbewegung mit größtem Nachdruck eingesetzt werden, um der Ausraubung Deutschlands durch die Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner, Coburger und ähnliches Gelichter entgegenzutreten. Zu diesem Zweck müssen unseres Erachtens selbst die geringen Handhaben ausgenutzt werden, die die Weimarer Reichsverfassung bietet. (…) Die Frage der entschädigungslosen Enteignung würde bei der Volksabstimmung von Millionen und Abermillionen mit einem entschiedenen Ja beantwortet werden. Der siegreiche Ausgang des Volksentscheides wäre um so mehr gesichert, wenn die gesamte Kraft der freien Gewerkschaften, des Reichsbanners und aller übrigen proletarischen und republikanischen Organisationen dafür eingesetzt würde. Die Zeit drängt, da eine Reihe wichtiger Abfindungsverträge gegenwärtig in der Schwebe sind. Ihr Abschluß muß unter allen Umständen verhindert werden, damit Millionenwerte den Dynastien entrissen und den sozialen Interessen der werktätigen Massen dienstbar gemacht werden.Offener Brief des ZK der KPD vom 2. Dezember 1925. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VIII. Berlin/DDR 1975, S. 281ff.
Offener Brief des ZK der KPD vom 2. Dezember 1925. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VIII. Berlin/DDR 1975, S. 281ff.
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