Gegründet 1947 Freitag, 21. November 2025, Nr. 271
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Aus: Ausgabe vom 21.11.2025, Seite 15 / Feminismus
Rezension

Es braucht (Un-)Geborgenheit

Kämpfen und Sorgen: Clara Tempel verbindet gekonnt und visuell greifbar Wissenschaftliches mit eigenen Erkenntnissen
Von Gitta Düperthal
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Oft entsteht in aktivistischen Gruppen ein besonderes Gemeinschaftsgefühl (Grünheide, 10.3.2024)

Der Titel lässt aufhorchen: »Politische Geborgenheit«. So lautet Clara Tempels in essayistischem Stil verfasstes Werk. Sollen klassenkämpferisch, umwelt- und klimaschutzaktivistisch oder feministisch geprägte Kämpfe gleichzeitig dafür sorgen, dass wir uns wohl und zugehörig fühlen? Straßenkampf, Streik und Besetzung etwa Glücksversprechen beinhalten? Sollen sie zu freundschaftlichen Beziehungsnetzen oder gar therapeutischer Heilung leiten? Wir leisten Widerstand gegen den Turbokapitalismus, der Kriegsgelüste und Militarisierung entfacht, den Planeten zerstört, Frauen in die Familienarbeit verbannt, faschistische Entwicklungen in Kauf nimmt – genießen aber zugleich Lebensverhältnisse eines utopischen Zukunftsmodells, das emanzipatorisch ist?

So einfach macht es sich die Autorin nicht, die selbst in einer anarchistisch-widerständigen Familie im Wendland mit der Anti-Atom-Sonne aufwuchs und auf Vaters Schultern bei Demos »mitlief«. Anders als andere Aktivisten, die sich zur Wiedergabe ihrer Erfahrungen veranlasst fühlen, schreibt Clara Tempel nicht in »Aktivisti-Sprech«. Freilich will sie mit neuen linken Bewegungen »die Verhältnisse zum Tanzen bringen«, erwartet aber nicht, dass sich jeder in die Welt einer Antikohleprotestgemeinschaft oder Waldbesetzung hineinfühlen kann. Sie nimmt die Leser mit in einen wissenschaftlich fundierten Diskurs über Geborgenheit, die selbst in Krisenzeiten stabilisierend wirkt. Tempel zitiert Psychologen und Soziologen, die erläutern, wie man trotz individueller Schicksalsschläge, Krieg, politischer Verfolgung und Naturkatastrophen eine »antwortende, entgegenkommende Welt« (Hartmut Rosa) entgegensetzen oder »Heimat« als nicht räumlich fixierten Ort irgendwo in der Welt wahrnehmen kann.

Tempel konstatiert, dass gerade extrem Rechte sich als vermeintliche Kümmerer ausgeben. Sie macht klar, dass die Linke die Aufnahme von Neuankömmlingen nicht vernachlässigen darf. Zwar entstehe Geborgenheit durch Geschlossenheit, Abgestimmtheit und Rituale des Kollektivs, doch gelte es, offen zu bleiben. Geborgenheit könne Widerständigen, die von der Staatsmacht angegriffen werden, sozialen Halt geben oder Trostpflaster sein, argumentiert die Autorin. Gleichzeitig sieht sie auch in »Ungeborgenheit« eine wichtige Funktion: um die Gegenseite vom Raubtierkapitalismus mit seinen entfesselten Marktkräften abzubringen. Für die Szene selber sei wichtig, nicht den Kampfgeist zu verlieren, weil man komfortabel in einer Scheinwelt versinkt.

Tempel zweifelt, wägt ab. Sie bezieht sich auf Isabell Loreys »Freiheit und Sorge: Das Recht auf Sorge im Regime der Prekarisierung«, zitiert Judith Butler damit, dass materielle und infrastrukturelle Vorbedingungen emanzipatorisches Handeln erst ermöglichen. Bemerkenswertes Stilmittel der Autorin: Sie erläutert Wissenschaftliches in grüner Schriftfarbe, eigene Erfahrungen in Rot. Mit ihren Illustrationen, die das Buch zieren, verdeutlicht sie den Balanceakt, den sie schriftstellerisch vornimmt. Das Buch ist insofern Kunstgenuss, lustvoll zu rezipieren. Tempel spielt sich nicht als Welterklärerin auf, sondern stellt als belesene Autorin ihre Erkenntnisse als Transmissionsriemen zur Verfügung, um sie dem gesellschaftlichen Rollback entgegenzustellen, kollektive Debatten und Handlungskonzepte in Bewegung zu bringen.

Ein Wermutstropfen soll nicht verschwiegen werden. Zwar gibt es für Außenstehende mit Humor nachvollziehbare Szenecodes – »Klitoriskettenanhänger« oder »Stacheldraht-verwandelt-sich-in-Vögel-Tattoos« –, andererseits aber auch Abkürzungen, die unerklärt und rätselhaft bleiben. Auch geht es in den letzten Kapiteln, die wohl nur bewegungsintern interessant sind, etwas detailverliebt zu. Insgesamt aber hat der Verlag Graswurzelrevolution ein tolles Buch herausgegeben, das prima ins Programm passt.

Clara Tempel. Politische Geborgenheit – Vor*Ankommen in sozialen Bewegungen, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2025, 306 Seiten, 21,90 Euro

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