Gepflegte Langeweile
Von Jan Decker
Die ATP Finals in Turin sind gelaufen, das Saisonabschlussturnier der Tennisherren, von manchen auch als inoffizielle Weltmeisterschaft bezeichnet. Teilnehmen dürfen die besten acht des Tennisjahres. Allerdings waren sich die Experten schon vorab einig, dass die aktuellen Dominatoren des Herrentennis, Carlos Alcaraz und Jannik Sinner, den Turniersieg wohl unter sich ausmachen würden. Keine übermäßig gewagte Prognose.
Man blickte deshalb vielleicht fast neidisch auf die WTA. Denn die WTA Finals vom 1. bis 8. November im damentennisbegeisterten Riad boten schon etwas mehr Suspense. Die neue Saisonweltmeisterin Jelena Rybakina hatte sich für das Turnier der besten acht praktisch erst in der letzten Sekunde mit einem Sieg beim 500er Turnier im chinesischen Ningbo qualifizieren können. Sie hatte eine eher mittelprächtige Saison hinter sich, zwei Titel (beides 500er), bei den vier Majors keine einzige Viertelfinalteilnahme. Bei den Finals war sie vermutlich nicht bei allen auf dem Zettel, war aber in Hochform. Sie gewann das Turnier ohne Niederlage und beendete ihre Saison mit elf Siegen in Folge.
In Turin wiederum herrschte zunächst ein wenig Verwirrung um ein nicht unbedeutendes Detail des Teilnehmerfeldes. Novak Đjoković hatte sich als Vierter im »Race« eigentlich für die Finals qualifiziert, zog jedoch einen Tag vor Turnierbeginn wegen einer angeblichen Schulterverletzung zurück, direkt nachdem er am 8. November beim ATP 250 in Athen den 101. Turniersieg seiner Karriere gefeiert hatte und nun mit 38 Jahren und fünf Monaten der älteste Gewinner eines ATP-Turniers überhaupt ist. Im goldenen Spätherbst seiner Karriere konzentriert er sich nur noch auf die Grand Slams. Die ATP Finals hat er bereits siebenmal gewonnen (zuletzt 2023 im Finale gegen Jannik Sinner). Für ihn rückte ausgerechnet der von ihm im Finale von Athen besiegte Lorenzo Musetti ins Klassement.
Dank der Absage von Đjoković gab es aber zwei ungleich starke Gruppen, aus denen die vier Halbfinalisten ermittelt wurden. Die »Jimmy Connors Group« wurde von Carlos Alcaraz angeführt, der dann auch alle drei Gruppenspiele gegen für ihn leichte Gegner wie Taylor Fritz, Alex de Minaur und Musetti gewann. Diese kassierten jeweils zwei Niederlagen bei einem Sieg, zwischen ihnen musste daher die Zahl der gewonnenen Spiele in allen Sätzen ihrer drei Gruppenmatches entscheiden – und da hatte die Kämpfernatur Alex de Minaur knapp die Nase vorn; er folgte Alcaraz ins Halbfinale.
In der »Björn Borg Group« ging es ein Stück weit ausgeglichener zu. Das lag auch an Félix Auger-Aliassime, der immer gegen Saisonende, wenn sich das Turnierleben nach drinnen verlagert, zu Hochform aufläuft. Und dann gab es in dieser Gruppe ja auch noch Alexander Zverev, seit Monaten konstant die Nummer drei der Welt, ohne dass er je auch nur einen Grand-Slam-Titel gewonnen hätte. Ein Phänomen für sich. Sein athletisches Grundlinienspiel fordert trotzdem jeden Gegner heraus. Gut, der aufstrebende Youngster Ben Shelton gab in dieser Gruppe das Krokodilfutter für die Großen ab. Die wurden hier von Jannik Sinner angeführt, der sich 2025 mit Carlos Alcaraz die Grand-Slam-Siege und die Weltranglistenführungsposition relativ solidarisch teilte. Sinner fegte alle drei Gruppengegner in jeweils zwei Sätzen vom Platz. Hinter ihm landete Auger-Aliassime auf Platz zwei, er nahm einem schwachen Alexander Zverev in einem kleinen Endspiel den anderen Halbfinalplatz weg. Vielleicht würden er oder Alex de Minaur für einen Überraschungssieger bei den ATP Finals sorgen, mithin für einen Rybakina-Effekt bei den Herren?
Am Wochenende bestritten diese vier Spieler die Halbfinals. Da entpuppten sich solche Spekulationen als reines Wunschdenken. Nein, Carlos Alcaraz erlag nicht seiner eigenen Verspieltheit, wie es ihm manchmal passiert. Alex de Minaur erwischte auch nicht seinen Ausnahmetag. Und Jannik Sinner zeigte sich nicht so erschöpft wie immer mal wieder in den finalen Wochen eines Tennisjahres. Insofern herrschte gepflegte Langeweile. Zuerst verfrühstückte Jannik Sinner Alex de Minaur mit 7:5, 6:2, wobei er im ersten Satz auch noch zahlreiche Breakmöglichkeiten ausließ und der Australier mit seiner taktischen Antwort, Sinners Kraft mit segelnden Slicebällen auszuhebeln, ziemlich alt aussah. Sinner stand zum dritten Mal hintereinander im Endspiel der ATP Finals. Ihm folgte ein in Turin sehr konstant spielender Carlos Alcaraz ins Schlussduell, der Félix Auger-Aliassime ebenfalls erschreckend mühelos mit 6:2, 6:4 bezwang. Nur eine Breakchance hatte er im ganzen Match gegen sich, nur zehn unerzwungene Fehler unterliefen ihm, dazu bot er einen packenden ersten Aufschlag. Im Finale der beiden Dominatoren am Sonntag abend setzte sich diesmal Jannik Sinner mit 7:6, 7:5 gegen Carlos Alcaraz durch und verteidigte seinen Titel. Wenn Alcaraz das knappe (Alcaraz hatte einen Satzball im ersten und führte mit Break im zweiten), etwas nervöse Match aber gewonnen hätte, hätte sich auch niemand gewundert.
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