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Aus: Ausgabe vom 11.11.2025, Seite 12 / Thema
Faschismus

Typisch deutsche Kleinstadt

Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Sinti-Minderheit und ihrer Verfolgung am Beispiel Berleburg. Zeitgeschichte in einer landschaftlichen Nussschale
Von Ulrich F. Opfermann
Als »Zigeuner-Mischlinge« stigmatisierte und verfolgte Sinti aus der Familie Saßmannshausen (Berleburg, o. D.)
Meldekarte der Familie Saßmannshausen in Berleburg

Die Angehörigen der Sinti-Minderheit blicken zurück auf eine mehr als 600jährige Geschichte in Mitteleuropa. Sie reicht bis an den Beginn des 15. Jahrhunderts. Sie sind den »Alteingesessenen« zuzuordnen, unbestreitbar. Anders aber als viele andere der zahlreichen »ethnischen« Bevölkerungsgruppen zwischen Nordsee und Alpen waren Sinti in den älteren Zeiten nicht einbezogen in die grundherrlichen Untertanenverbände, sie waren landlos und ohne Zugang zu den Zünften. Das machte es schwierig, sich in die gegebenen Verhältnisse einzuordnen und der Armut zu entgehen, in der ein übergroßer Teil der Bevölkerung lebte und die viele bewegte, ihren Untertanenverband mit dem Satz, »etwas Besseres als den Tod finden wir überall«, zu verlassen. Sinti waren ein Teil dieser »herrenlosen« Bevölkerung.

Zum Wechsel am Ende des 15. Jahrhunderts vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit, einem Epochenbruch, gehörte, dass der soziale Antagonismus zwischen oben und unten in Bundschuh­rebellion und »Bauernkriegen« militant ausgefochten wurde. Im Ergebnis folgte für die Verlierer, die Unterschichten, eine andauernde, verschärfte Ausbeutung. Es seien, so die Staatsmacht, herrenlose parasitäre, daher zu bekämpfende »Bettler, Räuber, Vagabunden« die Verursacher der allgemeinen »Überlast«. Ihnen seien, ergänzte Martin Luther unisono mit anderen frühbürgerlichen staatstreuen Stubengelehrten, als »Grundsuppe aller losen bösen Buben« »Zigeuner« und Juden hinzuzufügen.

Wiewohl nun nirgendwo mehr aufenthaltsberechtigt, gelang es Sinti dennoch, sich regional einzurichten, ihre Existenz mit einem Patchwork von Erwerbsweisen zu sichern, als Tagelöhner, Händler, Soldaten und mit Noterwerbsmethoden wie dem Betteln. Manchen Familien und Individuen gelang der Wechsel in den Untertanenstatus. So auch einigen der im 17. Jahrhundert an Lahn, Dill und Sieg lebenden Familien in Wittgenstein, einer Mittelgebirgs- und Waldlandschaft im Eigentum zweier feudaler Familienclans, die sich dort auf zwei Grafschaften und Schlösser verteilten. Wittgenstein war ein Beispiel krasser sozialer Gegensätze: Hier die Schlossinhaber, dort eine Mehrheit von Menschen, die sich in einer ressourcenarmen Landschaft irgendwie durchbeißen mussten. Sinti waren für ihre Obrigkeit im Schloss- und Teichbau und im Militär tätig. Einzelne erhielten Polizeifunktionen, die Grundherren trauten offenbar ihren Bauern und Städtern nicht recht.

Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte sich in der noch Residenz- und bald preußischen Kreisstadt Berleburg ein Wohnplatz vor der Stadt zu einem Sammelpunkt der regionalen Armut und zu einer Niederlassung auch von Sinti-Familien. Die ethnischen Grenzziehungen erodierten hier. Man heiratete untereinander, aus nachbarschaftlichen wurden verwandtschaftliche Beziehungen, aus tradierten Erwerbsweisen Lohnarbeitsverhältnisse. Viele hier waren katholisch und damit Außenseiter unter dogmatisch evangelisch-reformierten, die dem preußischen Bündnis von Thron und Altar nachtrauerten und ein nichtdemokratisches großdeutsches Reich herbeiwünschten.

»Eigene einfache Häuschen«

Ungeachtet seiner ethnisch diversen Bewohnerschaft sprachen »Städter« von den »Schwarzen vom Bärk«, dem »Zigeunerberg«. Die Familien hier waren insgesamt ärmer und schlechter qualifiziert. Die städtischen Vermögens- und Qualifikationsspitzen fehlten vollständig, während der Anteil der unteren Sozialschichten höher als im städtischen Schnitt war. Dennoch lässt sich die zunehmende Annäherung an die allgemeinen Lebensverhältnisse nicht übersehen. 1925 teilte der Landrat der Zentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens in München den Stand der Dinge mit: »Etwa 85 v. H. besitzen eigene einfache Häuschen. Die männlichen Bewohner sind in der Mehrzahl Tagelöhner und arbeiten als Land- und Waldarbeiter in fürstlichen Betrieben, ein anderer Teil sucht in der Industrie als Arbeiter sein Auskommen. Nur ein geringer Teil unter ihnen geht dem Hausierhandel nach. (…) Der Schulpflicht kommen sie nach.« Der »Berg« war ein Peripherie-, aber kein Elendsviertel und auch keine »Zigeunerkolonie«, wiewohl sich dort mit Bussen aus dem Ruhrgebiet anreisende Folkloreliebhaber wie in »Bosnien« oder auch »an den Ufern des Ganges und Indus« sahen.

Zu romantischen Sichtweisen standen die Wahlergebnisse in Wittgenstein in scharfem Gegensatz. Im Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf kam bei den Reichstagswahlen die Christlich-Soziale Partei des Berliner evangelischen Hofpredigers und führenden Antisemiten Adolf Stoecker von 1881 bis 1912 auf zwischen 42 und 52 Prozent. 1920 propagierte die in der Region christlich-sozial geprägte DNVP, »Ostjuden« »hinter Stacheldraht zu setzen«, nämlich in »Konzentrationslagern«, und deren Eigentum der »deutschen Volksgemeinschaft« zuzuführen. Die DNVP war in Wittgenstein die hegemoniale politisch-kulturelle Kraft bis zu ihrer Ablösung 1930 durch die NSDAP. In den zwei Reichstagswahlen 1932 erhielt diese um die zwei Drittel aller Stimmen (Reich: 37,2 und 33 Prozent), denen zehn Prozent der rechten Konkurrenz hinzugefügt werden können. Nicht ein Durchschnitt einer deutschen »Mehrheitsgesellschaft« hatte hier gewählt, sondern ein reaktionärer, radikalprotestantischer, kleinstädtischer und kleinbäuerlicher Ausschnitt, der sich mit seinen Wortführern vom Pfarrer bis zum Kleinunternehmer an der Größe und künftigen Bedeutung einer »deutschen Nation« begeisterte und sich von einer Umverteilung nach Ethnizität durch einen starken Staat etwas erhoffte. In der Stadtrandsiedlung, einer Insel, sah die Welt anders aus. Hier dominierte die KPD. Sinti nahe bei und in der KPD, das erstaunt nicht beim Blick in die Industriestädte wie etwa ins benachbarte Siegen, wo Verwandte der Wittgensteiner zu den Angeklagten in den KPD-Prozessen ab 1933 gehörten.¹

Einschneidende Maßnahmen

Ausdruck der regionalpolitischen Kräfteverhältnisse zum Jahresbeginn 1933 war der Amtsantritt eines neuen Berleburger Bürgermeisters. Die Stadtvertretung hatte sich unter 204 Bewerbern für den NSDAP-nahen 30jährigen diplomierten Volkswirt und Dr. rer. pol. Theodor Günther, Sohn eines thüringischen evangelischen Kirchenrats, entschieden. Der Form nach trat das frühere Mitglied des völkisch-extremistischen Freikorps Oberland, das schon 1923 bis zum Parteiverbot in der NSDAP gewesen war, ihr erneut erst 1937 nach Ablauf der ab 1933 geltenden Aufnahmesperre bei, war ihr Kreisbeauftragter für Rassenpolitik, aber schon 1933 in der SA, dort Rottenführer.

Es gab nur eine kleine jüdische Minderheit in der Stadt, so wurden die Sinti-Familien zu seinem bevorzugten Thema. Im Juni 1933 ordnete er mit Verweis auf die nach dem Reichstagsbrand erlassene Hindenburg-Verordnung »zum Schutz von Volk und Staat« für bestimmte Straßenzüge des »Bergs« Ausnahmerecht an.²

Er verhängte Ausgangssperren, drohte mit »hohen Geld- und Freiheitsstrafen« und mit »Abtransport in ein Konzentrationslager«. SA- und SS-Streifen patrouillierten, drangen zu Razzien in die Häuser ein. Bewohner wurden »blutig geschlagen«. Es seien »kommunistische staatsgefährdende Gewaltakte abzuwehren«. Die Wohnsituation sollte unerträglich, die Bewohner vertrieben werden. Diese Belagerung musste Günther auf Einspruch von oben abbrechen. Er plante nun »Umsiedlungszwang für alle« in ein abgelegenes »Zigeunerdorf« aus »Holzbaracken in der Lüneburger Heide«.

Parallel legte er eine »Sippenkartei« für 280 als »Zigeuner« und »Zigeunermischlinge« Kategorisierte an. Es folgte ein Versuch der radikalen Umsetzung des 1933 erlassenen und mit Jahresbeginn 1934 in Kraft tretenden Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (»Erbgesundheitsgesetz«), das den Einstieg in die späteren Krankenmorde darstellte. Denunziatorische Anträge des Bürgermeisters auf eugenisch begründete Sterilisierungen gingen über das Gesetz hinaus. Es traf zwar mehrheitlich, aber nicht allein Menschen vom »Berg«, sondern auch »erblich« Ertaubte, einen Homosexuellen oder ein als »frech, unverschämt und unbrauchbar« geschildertes Dienstmädchen, »deutschblütig« zwar, aber »bei ev. Heirat würde ein Mann mehr unglücklich werden«. Der Regierungspräsident genehmigte nur wenige Anträge. Günther setzte in Rassenhygiene und Eugenik seit dem Machtantritt Impulse nach oben, aber die Mittelbehörde bremste ihn. Mit Verboten »gemischter« Ehen hoffte er auf »Inzucht«. Sie sollten Genschädigungen und damit umfangreiche Sterilisierungen ermöglichen. »Einschneidende Maßnahmen« sollten die »planmäßige« Beseitigung der »durch und durch entarteten, verkümmerten und durch Inzucht gänzlich entwerteten« Berleburger Minderheit ermöglichen.

Neben dem Bürgermeister stand der Landrat Otto Gail, 1932 der NSDAP beigetreten und SS-Mitglied. Angeregt durch die Nürnberger Gesetze forderte er 1935, die Bewohnerschaft des »Bergs« insgesamt als »Mischlinge« darstellend, jede »weitere auch nur ausnahmsweise Mischung mit deutschblütigen Personen« zu verbieten und damit implizit, alle zu sterilisieren. Die Mittelbehörde lehnte ab, auf der unteren Ebene der Verwaltung hatte sich eine Radikalisierung der zentralstaatlichen Vorgaben vollzogen. Keinen Widerspruch erfuhr jedoch der Berleburger Alleingang, »Zigeunern« und »Zigeunermischlingen« die Beihilfen für kinderreiche Familien und die Ehestandsdarlehen zu verweigern.

Pseudowissenschaftliche Gründe

Druck machte der Bürgermeister auch mit einer »Denkschrift«. Es werde »das heutige Deutschland wirksame Mittel und Wege besitzen«, schrieb er, »der einheimischen, deutschblütigen Bevölkerung diese ekelerregende Zigeunerplage«, die sich »ungeheuer« vermehre, »planmäßig vom Halse zu schaffen«. 1937 publizierte das die Zeitschrift des NS-Ärzteverbands, etwa zeitgleich mit einem Beitrag von Günther im Reichsverwaltungsblatt. Dort monierte er, jahrhundertelang seien »die heiligen Lebensgesetze von Blut und Rasse« missachtet worden. Es herrsche daher ein »allgemeines Humanitätsgefühl, Mangel an Rassebewusstsein und der naive Glaube an die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt«. Er legte einen Dreistufenplan »Abgrenzung, Erfassung und Beendigung« vor. Damit ging er ein weiteres Mal über die zu diesem Zeitpunkt geltende NS-Linie hinaus.

1937 erschien in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst auch die Dissertation des Berleburgers Robert Krämer mit »rassischen Untersuchungen« zu den Bewohnern des »Bergs« wie auch eines benachbarten Wohnplatzes, sie alle abqualifiziert als »Ungeziefer«, als »Parasiten, im Gastvolk schmarotzend«. Krämer war seit 1929 in der NSDAP und erstes SA-Mitglied in Wittgenstein. Weite Teile der 22 Seiten waren ohne Quellenangabe wortwörtlich von Günther abgeschrieben, ganze Passagen pamphletmäßige Abqualifizierungen der Untersuchungsobjekte.

Wie Günther setzte Krämer zusätzlich einen parteipolitischen Akzent: Da dem »Zigeunertum« »asiatische Weltanschauungen« »verwandtschaftlich näher als die des deutschen Wirtsvolkes« seien, habe es sich bis 1933 »mit dem Instinkt des Untermenschen« zum Kommunismus bekannt. In »parasitärer Erbkonstanz« zeige sich nun »das wahre Gesicht ihrer asiatischen Bestialität«. Es sei daher »eine endgültige Lösung der Zigeunerfrage notwendig«.

In der weiten Region recherchierte der Soester Hilfsschullehrer Otto Hesse für die Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle (RHF) des Dr. Ritter in Berlin, der zentralen Erfassungsinstanz für die Minderheit. Er hatte Daten auch zu Wittgenstein dorthin gegeben. Er sah sich in der Pflicht, »mit deutscher Gründlichkeit« und ohne »falsche Rührseligkeit« »mitzuhelfen an der Auslese Erbgeschädigter«. Angesichts von Erbkonstanz sei alles andere »Irrsinn«.

Aus Berlin wurde Günther mehrfach besucht, mindestens einmal 1937 von Ritter selbst und dann von dessen engster Mitarbeiterin Dr. Eva Justin sowie von Dr. Adolf Würth. Bis auf die Kleinkinder wurden sämtliche Bewohner der »Kolonien« von den Berlinern anthropometrisch vermessen, mindestens zum Teil einer Intelligenzprüfung unterzogen und fotografiert. Das wollten nicht alle mit sich machen lassen. Widerspenstige wurden von der Polizei zwangsweise vorgeführt. Es entstanden die Voraussetzungen für die individuelle Erfassung in Listen, die nach genealogisch abgeleiteten »Blutsanteilen« zwischen »Zigeunern« und »Zigeunermischlingen« unterschieden.

Deportation nach Auschwitz

Am 16. Dezember 1942 erging der Himmler-Erlass zur Deportation der »Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütigen Angehörigen zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft« in ein Konzentrationslager. Die Ausführungsbestimmungen vom 29. Januar 1943 nannten dafür das Vernichtungslager Auschwitz.

Der Auswahl der zu Verschleppenden lag in Berleburg eine Liste der RHF zugrunde. Die endgültige Entscheidung fiel vor Ort am Vortag der Deportation. Beteiligt waren Vertreter eines Arbeitsverbunds aus der Kripo Dortmund, der Ortspolizei, der Stadt- und der Kreisverwaltung, der Partei, des Gesundheits-, des Arbeits-, des Rassenamtes und der Fürsorge, ausnahmslos Angehörige der regionalen »besseren Gesellschaft«. Die Konferenz leitete der seit 1942 in Berleburg tätige Landrat Otto Marloh, eine Figur mit eigener Geschichte.

Marloh war weithin im Deutschen Reich bekannt als der Offizier des Freikorps »Brigade Reinhard«, der 1919 im Gefolge eines Schießbefehls des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske jeden Zehnten von 300 Matrosen der republikanischen Volksmarinedivision hatte selektieren lassen, um seine Opfer erst misshandeln und dann erschießen zu lassen. Er prahlte später gerne damit. Wegen Totschlags angeklagt, wurde er freigesprochen. Bekannte linke und bürgerliche Sprecher bezeichneten das Urteil als Werk einer parteilichen Strafjustiz. Marloh war »Alter Parteigenosse« und hoher SA-Offizier.

Unter Marloh beschlossen die Konferenzteilnehmer die Deportation von 134 Angehörigen der Minderheit, etwa die Hälfte Kinder, die am 9. März 1943 mit zahlreichen weiteren Opfern aus den Nachbarregionen in einem Massentransport in das »Zigeunerfamilienlager« in Auschwitz-Birkenau verschleppt wurden, das nur neun überlebten. Die Gesamtzahl der Wittgensteiner Deportierten erhöht sich um eine Anzahl aus anderen Orten des Kreises und um solche, die inzwischen weggezogen waren (so nach Duisburg, Kassel, Marburg und Stuttgart). Alle hätten sie den Ausnahmevorschriften der Ausführungsbestimmungen vom 29. Januar 1943 zugeordnet werden können, wenn nicht müssen, wie dies andernorts in der weiteren Region geschah.

Nach der Abfahrt des Zuges wurden die verlassenen Häuser geplündert: »Das Haus war noch nicht kalt, da haben sie schon die Wäsche und die Möbel von den Leuten rausgeholt.« Es folgte die Enteignung des beweglichen und unbeweglichen Eigentums zugunsten des Reichs, durchaus erhebliche Werte, wenn man nur den Grundbesitz nimmt, aber auch das Kleineigentum: »Von den abgeführten Zigeunern u. a. 82 Pfd. Rauchfleisch und 82 Konservenbüchsen m/Gemüse übernommen.« Wie im Fall der jüdischen Deportationsopfer wurde das Raubgut entweder an die Mehrheitsbevölkerung verkauft oder zu Verpachtung, Vermietung oder Verkauf dem zuständigen Finanzamt überlassen.

Dass es nicht um eine »Umsiedlung« gegangen war, sondern um den Transport in ein Vernichtungslager, war innerhalb der Stadtverwaltung allgemein bekannt und ein in der Kleinstadt umlaufendes offenes Geheimnis. So hatte ein städtischer Angestellter zwei Frauen aus der Siedlung »abends bei einem Glase Wein« eröffnet, das Ziel der Deportation der Eltern und Geschwister sei das KZ Auschwitz gewesen. Er benannte ihnen die dort geltenden Kriterien: Die Alten und die Kinder würden »im Leben nicht wiederkommen«, unter Umständen aber einige von den jungen Leuten. Die würden als Arbeitskraft »vielleicht das Lager überstehen«. Ein in der Kleinstadt stationierter SS-Mann erzählte betroffenen Familienmitgliedern »von Polen von solchen Lagern: Treblinka. (…) Wie die umgekommen waren. Also, wir wussten, die kommen nicht wieder. Die sind weg.« Ein Arzt, ein aktivistischer Altnazi, hatte einem der Verschonten erklärt, »man hatte vor, Euch alle auszurotten, aber das ist uns nicht gelungen«.

Auf dem »Berg« fürchtete man eine zweite Deportation. Mancher Berleburger versprach sich etwas davon: »Die (Wäsche) kannste mir vermachen, ihr kommt sowieso noch weg!« Für die Verschonten endete die Verfolgung nicht. Fast alle bis dahin eingeführten Formen der Entrechtung blieben in Kraft, sie hatten ihr Einverständnis mit ihrer Sterilisierung zu erklären: Es blieb bei der Absicht ihrer völligen Beseitigung.

»Schlussstrich«

Kurz nach ihrer Befreiung gründeten Überlebende und Verschonte eine Gruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Sie brachte die Verantwortlichen der Deportation vor Gericht. »Von Amts wegen« geschah in dieser Hinsicht nichts, aber so war es nahezu überall. Das Verfahren vor dem Landgericht Siegen hatte Seltenheitswert. Westdeutsche Verfahren gegen deportationsverantwortliche Schreibtischtäter lassen sich an einer Hand abzählen, ohne ganz durchzählen zu müssen. Es wurden Ermittlungen gegen 28 Beschuldigte aufgenommen. Zeugenaussagen aus der Minderheit stießen dabei auf »äußerste Vorsicht«.

Bei 19, darunter alle hier Genannten bis auf Marloh, wurde das Vorverfahren eingestellt, bei zwei die Anklage fallen gelassen, einer freigesprochen, sechs wurden im März 1949 wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu Freiheitsstrafen verurteilt, bei zwei Verurteilten aber die Strafen auf dem Gnadenweg vollständig, bei den anderen teilweise erlassen. Der Höchstbestrafte, der vormalige Landrat Marloh, trat die Strafe wegen Haftunfähigkeit gar nicht erst an. Die Verfahrenskosten wurden ihm erlassen: Armenrecht. In der Summe ergab sich eine Strafdauer von zwei Jahren und acht Monaten minus Hafturlaub, ein für die westdeutsche Strafgerichtsbarkeit typisches Ergebnis bei NS-Verbrechen.

In der regionalen Bevölkerung löste das Urteil eine erhebliche Resonanz aus. Eine kleine Volksbewegung, an deren Spitze der Landrat, der Kreistag, die Evangelische Kirchengemeinde Berleburg (»einmütig«) und mehrere Gesangvereine, sowie eine Petition mit Hunderten Unterschriften forderten Gnade oder auch Freispruch angesichts eines »ungerechten Urteils«. Das Berleburger Presbyterium erklärte 1951 im nachhinein, es müsse endlich einmal »ein Schlußstrich unter die Vergangenheit gemacht« werden. Die Tatbeteiligten waren anders als die Opfer offenbar gut in das herrschende Milieu eingebunden.

Dem jetzt von den britischen Militärbehörden eingesetzten Bürgermeister hatten die KZ-Überlebenden schon 1945 – in einer Zeit der Hamsterfahrten und einer blühenden notbedingten Delinquenz in der Mehrheitsbevölkerung – wie schon Günther als arbeitsscheue Bettler und Landstreicher gegolten. »Wiedergutmachung« lehnte er ab. Die Rückkehrer hätten »zum Teil (…) heute schon mehr, als sie vor ihrer Verschickung gehabt haben«.

Sozial- und Ethnorassismus

Es baute sich ein Narrativ der Leugnung, der Ablehnung von Reue, der Schuldumkehr auf, das einer der Söhne des Landrats Marloh noch 2004 im Interview mit Annette Leo exemplarisch formulierte. Sein Vater sei in einem »KZ« in Recklinghausen interniert gewesen, die »Sintis und Romas« seien in das »Sammellager« Auschwitz nur »umgesiedelt« worden. Sie seien, wie er selbst es erlebt habe, alle wieder nach Berleburg zurückgekehrt, um dort sogleich erneut Raub und Diebstahl zu begehen. Von »Vernichtung« sei nicht zu reden, das sei eine Erfindung der »willigen Vollstrecker alliierter Umerziehung«. »Riesensummen Gutmachung« seien geflossen. Der Ex-Wehrmachtsoffizier baute ab 1956 die Bundeswehr mit auf, er und ein Bruder, beide geboren in den 1920er Jahren, bewegten sich politisch in einem Netzwerk von NS-Traditions- und Nachfolgeorganisationen.

Einer der früh aus den strafrechtlichen Ermittlungen Entlassenen war Theodor Günther gewesen. 1948 wurde er als gering belasteter »Mitläufer« (Kategorie IV) entnazifiziert und in »automatischer Überprüfung« mit Abschluss der Entnazifizierung 1949 »entlastet« (Kategorie V). Er zog um nach Dünnwald bei Leverkusen. Was der promovierte Volkswirt vom emblematischen Jahrgang 1902 nun arbeitete, ist unbekannt. Ein Gerücht sieht ihn in der Bayer AG am Standort Leverkusen. Viele wie er wechselten in Leitungsfunktionen der Wirtschaft. Plausibel wäre es also, belegt ist es nicht. Weiterhin schrieb und publizierte er historiographische Beiträge. Dort offenbart sich, dass er bei verbaler Distanz zur Nazidiktatur und mit Bekenntnissen zur westdeutschen Verfassung doch ungerührt der alte Rassist geblieben war. In der Menschheitsgeschichte sah er die »Blutströme« der Genetik am Werk. Jetzt nicht mehr das »Blut« unzivilisierter »Asozialer« aus den Unterschichten, sondern das hochgebildeter »Eliten« in ihrem »schicksalhaft« »nach epochalem Ziel drängenden erbbiologischen Aufbruch«. In »einer langen Kette verborgenen Chromosomengutes« zeige sich »das Wertvolle, Eigenartige und Hohe wahren Menschentums«. »Blutsverbindungen« und die »Vereinigung« und »Verschmelzung« von »Erbgut«, das sei es gewesen, was jemand wie Goethe hervorgebracht habe.

1983 feierte Berleburg seine 725-Jahr-Feier. Zu den Ehrengästen gehörte Günther. Das rief störende Erinnerungen an ihn hervor, was aber zum Einstieg in eine historiographische Annäherung an die regionalen NS-Jahre wurde, der sich im Folgejahrzehnt entschiedener fortsetzte. 2002 schließlich wurde »den Berleburger Opfern nationalsozialistischer Verfolgung« – gemeint war der »Berg«, eine Gedenkstätte der jüdischen Opfer gab es bereits – von der Stadt ein Erinnerungsstein gewidmet. Auf die Angabe der Namen der Opfer verzichtete man. Allein das Deportationsdatum gibt dazu eine Auskunft. Angehörige von Verfolgten hatten einer Namensnennung widersprochen. Sie fürchteten Diskriminierung, ein Lebensthema der Familien seit Generationen.

Anmerkungen

1 Ulrich Friedrich Opfermann: Zu Widerspruch und Widerstand aus der Roma-Minderheit gegen NS-Bewegung und NS-System in der Rhein-Ruhr-Region. In: Interkultur Ruhr, 8.5.2020, abrufbar unter: https://interkultur.ruhr/notiz/zu-widerspruch-und-widerstand-aus-der-roma-minderheit-gegen-ns-bewegung

2 Zur NS-Geschichte des »Bergs« siehe: Doris Jegers: Die Auswirkungen rassischer Diskriminierung während des Nationalsozialismus auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Untersuchungen an seßhaften Zigeunernachkommen, Bd. II, Interviews. Siegen 1992

Ulrich F. Opfermann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15./16. und am 17. März 2025 in zwei Teilen über Antiziganismus in der Weimarer Republik: »Von wegen demokratisch« und »Hetze aus der Mitte«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (11. November 2025 um 15:25 Uhr)
    Deutsche Geschichte: Es gab Zeiten in ihr, bei denen einem übel werden kann, wenn man sich gründlich mit ihr beschäftigt. Bezeichnend, was nach 1945 dort geschah, von wo aus man heute versucht, alle Welt über Antifaschismus zu belehren. Obwohl die braune Jauche in der BRD wie im Wittgensteinschen nie aufgehört hat, zum Himmel zu stinken.

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