Kalte Füße in Kiew
Von Reinhard Lauterbach
Nein, dies wird kein Text darüber, dass der Ukraine ein Winter im Kalten bevorsteht. Obwohl es womöglich auch mit dem zusammenhängt, wovon hier die Rede sein wird. Der ukrainische »Asow«-Aktivist und frühere Parlamentsabgeordnete Igor Luzenko hat nämlich eine Statistik der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft über die Zahl der Desertionen aus der ukrainischen Armee gepostet, und die ist – von seinem Standpunkt – erschreckend: Demnach ist die Zahl der Desertionen und mehr noch die der eigenwilligen Entfernungen von der Truppe im zu Ende gehenden Jahr dramatisch angestiegen. Waren in zweieinhalb Jahren vom Kriegsbeginn bis September 2024 knapp 30.000 Fälle von Desertion zur Anzeige gebracht worden und knapp 60.000 von eigenwilliger Entfernung, so ist die Gesamtzahl zwischen Oktober 2024 und September 2025 dramatisch angestiegen: auf knapp 54.000 Desertionen – also plus 80 Prozent in einem Jahr – und 235.000 eigenwillige Entfernungen – eine Vervierfachung. Die Tendenz ist also: steil nach oben.
Luzenko schließt ein Lamento darüber an, dass diese Zahlen der ukrainischen Gesellschaft offenbar egal seien. Das ist noch wenig gesagt. Die Gesellschaft ist nach dem, was man auf dortigen Telegram-Kanälen und lokalen Foren sehen und lesen kann, in großen Teilen bereit, nicht die Rekrutierungsbehörden zu unterstützen, sondern diejenigen, die sich ihnen zu entziehen suchen. Das jüngste Beispiel kam am Wochenende aus Winnizja: Dort stürmten Passanten einen SUV des Wehrersatzamtes und versuchten, den zwangsmobilisierten Mann aus dem Auto zu befreien. Der Soldat am Steuer überrollte einen Passanten, der sich vor das Auto stellte, und schüttelte einen anderen, der in der offenen Tür stand, durch ein Bremsmanöver ab.
Den Durchhaltenationalisten in Kiew geht offenkundig das Menschenmaterial aus. Trotzdem soll man solche Erscheinungen nicht überinterpretieren. Wer bis zu dreieinhalb Jahre an der Front ist und offiziell nie nach Hause fahren konnte, der macht sich irgendwann von sich aus auf den Weg. Und kommt womöglich auch wieder zurück. Der scharfsinnige Marxist Karl Korsch hat 1920 geschrieben, in Deutschland habe 1918 keine Revolution stattgefunden, sondern ein Militärstreik. Das scheint auch zu treffen, was wir derzeit in der Ukraine beobachten können. Die Leute haben den Krieg satt, sogar Wolodimir Selenskij muss dieser Stimmung Rechnung tragen. Aber der Repressionsapparat im Hinterland scheint weiterhin zu funktionieren. Die Nationalisten haben Waffen, sie sind organisiert, und sie haben dem Präsidenten schon gedroht, dass er einen für die Ukraine nachteiligen Friedensschluss politisch wie persönlich nicht überleben werde. Das weiß Selenskij, und deshalb sind von ihm keine Friedensinitiativen zu erwarten. Sie wollen weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. November 2025 um 10:03 Uhr)Halten wir zunächst fest: Im Budapester Memorandum von 1994 wurde auf Grundlage des damals geltenden ukrainischen Rechtsstatus festgeschrieben, dass die Ukraine ein bündnisfreier, neutraler Staat bleibt. Zu den Garantiemächten gehörte auch Russland. Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich, die im Rahmen der Minsker Abkommen später als Garantiemächte auftraten, ihre Verpflichtungen jedoch nicht wahrnahmen, reagierte Russland auf den Bruch dieses bündnisfreien Status und nahm damit – aus seiner Sicht – die vereinbarte Garantie über den Rechtsstatus der Ukraine wahr. Ebenso klar ist: Die Ukraine kann diesen Krieg militärisch nicht gewinnen. Das bedeutet, dass die verbliebenen Soldaten gezwungen sind, bis zum Äußersten zu kämpfen. Doch was geschieht danach? Eine verantwortungsvolle Regierung müsste über den Tag hinausblicken und die langfristigen Konsequenzen erkennen. Russland hat von Beginn an klare Bedingungen für ein Kriegsende formuliert und sieht sich heute militärisch im Vorteil – entsprechend fehlt in Moskau jede Bereitschaft zu Kompromissen. Damit liegt die Entscheidung über das Ende des Krieges letztlich bei der Ukraine selbst. Die entscheidende Frage lautet jedoch: Welchen Preis ist sie bereit, für diese Entscheidung zu zahlen? Denn am Ende geht es nicht nur um den Ausgang des Krieges, sondern um die Zukunft der Ukraine nach ihm.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim Seider aus Berlin (10. November 2025 um 14:05 Uhr)Im Marionettentheater tanzen die Puppen so, wie an den Schnüren gezogen wird. Sie haben und brauchen keinen Weitblick. Der würde nur stören im Spiel, das vom Regisseur vorgegeben ist. Und das verläuft und endet so, wie er das vorhat, und nicht der Kasper.
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