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Aus: Ausgabe vom 08.11.2025, Seite 12 / Thema
Deutsche Bahn

Regierungsziel »Volldigitales Land«

Aus Onlineangeboten werden immer öfter Onlinezwänge. Die Regierung will physische Infrastruktur möglichst abschaffen. Bei der Deutschen Bahn läuft das auf rechtswidrige Weise
Von Ralf Hutter
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Für viele Menschen im Land kann dieser Zug weniger. Mit Kampagnen wie »Digital im Regio« im Jahr 2017 schließt die Deutsche Bahn jeden, der analog bleiben will, aus

Es ist dann doch ein bisschen schade, dass Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Kohl nicht mehr leben. Dann wären sie nämlich wohl in der »Senioren-Union der CDU Deutschlands« und würden Bundeskanzler Merz mitsamt den Digitalheinis, in deren Interesse er Politik macht, was husten. Ende August haben die 180 Bundesdelegierten der Senioren-Union gleich zwei Anträge angenommen, die den faktischen Zwang zur Nutzung von Onlinedienstleistungen kritisieren. Der eine, eingereicht vom Kreisverband Olpe (Nordrhein-Westfalen), fordert die CDU auf, »sich dafür einzusetzen, dass für alle Verwaltungsleistungen sowie notwendigen Leistungen des täglichen Lebens die Wahlfreiheit zwischen digitalem und analogem Zugang besteht«, und »dass gesetzliche Regelungen klarstellen, dass im täglichen Leben Preise bzw. Vertragsgestaltungen nicht ausschließlich an die digitalen Fähigkeiten oder Möglichkeiten der Kunden gekoppelt werden dürfen«. Demzufolge gibt es »knapp vier Millionen Menschen jenseits der 80, die laut Bundesseniorenministerium keinen Zugang zum Internet haben«.

Der zweite Antrag wurde von der Senioren-Union Sachsen-Anhalt eingebracht und trägt die Überschrift: »Recht auf analoges Leben sichern«. Die Begründung: »Viele ältere Menschen, und oft nicht nur die, sind mit der zunehmenden Digitalisierung überfordert, sind dadurch mitunter hilflos und fühlen sich ausgeschlossen.«

Regierung sucht Datenschätze

Schon im Februar 2022 hatte die Senioren-Union diese Forderungen erhoben. Bei »einfachen Dingen« wie Terminabsprachen für Behördenbesuche und Bankgeschäften seien viele alte Menschen »abgekoppelt«, hielt ihr damaliger Vorsitzender Otto Wulff in einer Stellungnahme fest. Er sprach von »Ausgrenzung«, die auch von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen kritisiert worden sei. Die Bundesdelegiertenversammlung nahm jetzt zudem zwei Anträge zum Erhalt des Bargelds als gesetzliches Zahlungsmittel beziehungsweise bei »allen Geschäften der täglichen Daseinsvorsorge« an. Auch da wurde mit den Hürden elektronischer Zahlungsmittel argumentiert.

Nicht, dass diese Forderungen eine große Chance auf Durchsetzung hätten. Im Oktober 2024 wies Volker Wissing (FDP), damals Bundesminister für Verkehr und Digitales, den Weg: »Wir müssen analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen und auf komplett digitale Prozesse setzen. Dies ist nicht nur effizienter und spart Kosten, sondern verbessert die Datenverfügbarkeit.« Verfügbarkeit für wen? Es geht um eine »chancenfokussierte Datenökonomie«, um ein »Ökosystem für Geschäftsmodelle und Produkte«, wie in Wissings »Digitalstrategie Deutschland« zu lesen war.

Laientauglich wurde in der Darstellung dieser Strategie erklärt: »Grundlage der digitalen Welt sind Daten. Sie liegen oft verstreut und unentdeckt – wie auf einsamen Inseln. Damit wir wertvolle Daten nutzen können, müssen wir die isolierten Dateninseln entdecken und vernetzen.« Das war entweder suboptimal getextet oder es ging darum, den Zweck zu verschleiern. Man hätte auch die Metapher eines zu hebenden »Datenschatzes« verwenden können, denn letztlich geht es um finanziellen Gewinn.

Der Internetauftritt der »Digitalstrategie Deutschland« existiert nicht mehr, das Projekt wird also offenbar seit dem Ausscheiden der FDP aus der Regierung nicht weitergeführt. Aber anders klingt der aktuelle Koalitionsvertrag nicht. Dort ist etwa zu lesen: »Wir wollen Deutschland zu einem starken Digitalstandort mit starkem digitalen Ökosystem entwickeln. (…) Dafür beseitigen wir Rechtsunsicherheiten, heben Datenschätze, fördern Daten-Ökosysteme und setzen auf Datensouveränität.« Souveränität bezieht sich allerdings nicht auf jeden Menschen, sondern auf Deutschland im Vergleich zum (unspezifischen) Ausland. Es geht nicht nur um die Wirtschaft: »Unser Leitbild: eine vorausschauende, vernetzte, leistungsfähige und nutzerzentrierte Verwaltung – zunehmend antragslos, lebenslagenorientiert und rein digital (digital only) mit gezielten Unterstützungsangeboten.«

Sowohl in der Wirtschaft als auch in der staatlichen Verwaltung soll eine »Ende-zu-Ende-Digitalisierung« erfolgen. Das bedeutet, dass Prozesse beziehungsweise Dienstleistungen von vorn bis hinten digital stattfinden sollen, also zum Beispiel vom Antrag bis zum Behördenbescheid. Anders gesagt: »Schriftformerfordernisse schaffen wir, wo immer möglich, mit Hilfe einer Generalklausel ab.« Corona-Hilfsgelder und die 2023 vergebene Energiepreispauschale für Studierende konnten schon nur noch online beantragt werden.

Natürlich will die Regierung dabei »allen die digitale Teilhabe gewährleisten und die Barrierefreiheit stärken«, denn je mehr Menschen mitmachen, desto besser funktioniert das Ganze. Von Alternativen für im positiven Sinne renitente Bürger ist nicht die Rede. FDP-Minister Wissing wollte »ein volldigitales Land«, und die aktuelle Regierung will das offenbar ebenfalls. Die davon profitierenden Unternehmen sowieso. Laut einem Bericht von Heise Online vom 18. Oktober 2024 sagte Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des IT-Verbands Bitkom, anlässlich der Veröffentlichung des zweiten Fortschrittsberichts zur damaligen Digitalstrategie der Bundesregierung: »Wir können nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag ineffiziente analoge Prozesse weiterführen. Analoge Verfahren müssen Schritt für Schritt auslaufen und abgestellt werden.«

Juristisch angreifbar

Auf dem Weg in die Volldigitalisierung ist aber ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung ein Klotz am Bein. Der jährlichen Erhebung des Statistischen Bundesamts zufolge gab es in Deutschland 2024 noch immer fast 2,8 Millionen Menschen im Alter von 16 bis 74 Jahren, die noch nie im Internet gewesen waren. Das sind vier Prozent dieser Bevölkerungsgruppe. In der Altersgruppe der 65- bis 74jährigen waren es demnach zwölf Prozent. Hinzuzuzählen sind nicht nur die Menschen über 74, sondern auch diejenigen, die zwar das Internet nutzen, aber gewisse Vorgänge nicht dorthin auslagern wollen. »Die weit verbreitete Ansicht, durch Zeitablauf und technische Entwicklung werde sich das Problem des Digitalzwangs von alleine erledigen, ist irrig«, schreiben denn auch Karin Schuler und Thilo Weichert in ihrem 30seitigen Gutachten »Ein Recht auf analoge Teilhabe – Freiheit vor Digitalzwang. Praktische und rechtliche Aspekte«, das sie im Dezember 2024 unter www.netzwerk-datenschutzexpertise.de veröffentlicht haben.

Schuler ist freiberufliche Beraterin für Datenschutz und ehemalige Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, Weichert war bis 2015 Schleswig-Holsteins unabhängiger Datenschutzbeauftragter und wurde in dieser Funktion mit besonders kritischen Stellungnahmen zu einem der bundesweit bekanntesten Akteure in diesem Bereich. Die beiden Fachleute haben einen mit viel juristischer Fachliteratur unterlegten, aber allgemeinverständlichen Text vorgelegt, in dem sie Missstände benennen und viele Rechtsbereiche darauf abklopfen, ob die gesetzlichen Vorgaben diesen Missständen entgegenstehen. Sie halten es für »offensichtlich, dass es eine Vielzahl von Lebenssituationen gibt, bei denen Digitalzwang herrscht, und dass Menschen, die digitale Medien nicht nutzen können und wollen, diskriminiert werden«.

Neben alten Menschen trifft die Diskriminierung drei weitere große Bevölkerungsgruppen. Zum einen sind das Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, die mit digitalen Prozessen oder bestimmten Geräten nicht (gut) umgehen können. Zweitens kann Armut ein großes Hindernis sein. Einen halbwegs zeitgemäßen Computer, ein Mobiltelefon mit stets aktuellem Betriebssystem oder eine dauerhafte Internetverbindung können sich noch immer viele Leute nicht leisten. Und drittens gibt es auch noch Menschen, die sich der Volldigitalisierung bewusst verweigern.

Digitalzwang verstößt natürlich auch gegen Schutz- und Teilhaberechte von Behinderten und Armen, wie sie im Grundgesetz und der Europäischen Grundrechtecharta festgeschrieben sind. Vor allem die letztgenannte Bevölkerungsgruppe findet in Schulers und Weicherts Gutachten viele wichtige Hinweise. Zunächst liefern die beiden folgende nützliche Definition: »Als Digitalzwang wird bezeichnet, dass Menschen wegen des Fehlens einer analogen oder zumindest datensparsamen elektronischen Alternative zur Nutzung eigener Endgeräte und zur Registrierung bei Internetangeboten gezwungen sind, um bestimmte Dienste entgegen ihren Vorstellungen und Möglichkeiten zu nutzen.« Sich daraus ergebende Diskriminierungen seien »schon heute erkennbar rechtswidrig«, doch oft sei die Rechtslage »unklar oder streitig«.

Dabei sind die grundrechtlichen Vorgaben in etlichen Bereichen klar, auch durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Sie legen meistens nicht nur einen Schutz vor Übergriffigkeiten fest, sondern auch Teilhaberechte. Zu nennen sind da vor allem der Vorrang der Menschenwürde vor allem anderen, das Grundrecht auf Handlungsfreiheit (Artikel 2 des Grundgesetzes) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aus dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgt.

DB verliert vor Gericht

All diese Grundrechte binden nicht nur staatliche Stellen, sondern sie können auch gegen Unternehmen durchgesetzt werden. In die Vertragsfreiheit kann der Staat vor allem dann eingreifen, wenn ein Unternehmen in einem Bereich der Daseinsfürsorge eine marktbeherrschende Stellung hat. Auch Verkehrsdienstleistungen können zum Bereich der Daseinsfürsorge gezählt werden, und ebenda gab es im Juli einen solchen staatlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit, nämlich bei der Deutschen Bahn. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat der Bahn auf Klage des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV) verboten, beim Verkauf von Fahrscheinen zu Sparpreisen E-Mail-Adressen und Telefonnummern zu verlangen. Diese Fahrscheine können nicht mehr an Automaten gekauft werden, sondern nur als sogenannte Onlinetickets, wobei die Bahn will, dass die Kundschaft sich mit persönlichen Daten registriert. Selbst am Fahrkartenschalter werden an nicht registrierte Menschen Ausdrucke auf normalem Papier verkauft, die als Onlineticket bezeichnet werden.

Wenn die Kundschaft bisher eingewilligt hat, eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer anzugeben, stellt das laut Gericht eine erzwungene Einwilligung dar, denn sie habe bezüglich des Verkehrsmittels keine »echte Wahl« gehabt. Das Gericht weist zudem das von der Bahn vorgebrachte Argument, wer keine Daten angeben will, kann sich einen Fahrschein zum normalen Preis kaufen, zurück, denn der sei »signifikant teurer«.

Ein weiteres gewichtiges Argument im Gerichtsurteil ist natürlich, dass die Bahn die E-Mail und Telefonnummer nicht braucht. Die dienen nämlich »vornehmlich unternehmensinternen Zwecken – etwa der Kundenbindung, Werbung oder der Kontrolle des Nutzungsverhaltens«. Nebenbei ist im Urteil festgehalten, dass das Bundesverkehrsministerium diese Datenerhebungspraxis ohne erkennbare rechtliche Prüfung genehmigt hatte. Das verwundert bei einer von Volker Wissing geleiteten Behörde nicht. Wie deutlich der Datenschutzverstoß aber war, zeigt sich auch daran, dass Hessens Datenschutzbeauftragter 2024 die Bahn darauf hinwies. In der Folge verlangte diese dann ab Dezember auch keine E-Mail-Adressen und Telefonnummern mehr.

Die Digitalisierung bei der Bahn wird seit langem kritisiert. Im Mai 2024 gingen 28 Verbände mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit, in dem sie einen »analogen Zugang zu Bahn-Card und Sparpreisen« forderten. Darunter waren sowohl große Organisationen wie der Paritätische Gesamtverband, die Arbeiterwohlfahrt und fast alle DGB-Gewerkschaften oder deren Seniorenvertretungen als auch kleine Verbände, darunter eine ganze Reihe, die jeweils Betroffene bestimmter körperlicher Gebrechen vereinen: Körper- und Mehrfachbehinderung, Arm- oder Beinamputation, Alzheimer, Epilepsie, Multiple Sklerose, Rheuma und Sehbehinderung. Die beiden Anlässe für den Protest: Seit Juni 2024 kann die Bahncard nur digital oder nach Onlineregistrierung und eigenem Ausdruck eines QR-Codes genutzt werden, und seit Oktober 2023 gibt es Sparpreise, wie erwähnt, nur noch bei sogenannten Onlinetickets.

Der Verein Digitalcourage mit Sitz in Bielefeld wendet sich generell gegen Digitalzwang. Im Mai 2024 veröffentlichte er eine Petition an den Bundestag (allerdings nicht über dessen Petitionsplattform, wo jede Unterschrift verifiziert wird), in der er fordert, »ein Recht auf Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen«. In seiner Publikationsreihe ist ein von Leena Simon und Vera Lisakowski verfasstes Heftchen erschienen, das einen laientauglichen, in zehn Minuten lesbaren Einstieg ins Thema Digitalzwang darstellt und für fünf Euro im Buchhandel sowie als Datei kostenlos über die Webseite des Vereins erhältlich ist.

Gegen die Datensammelwut der Bahn kämpft Digitalcourage an mehreren Fronten. So reichte der Vereinsmitgründer Padeluun schon im Oktober 2022 Klage ein, weil die Bahn-App Navigator zwangsweise unnötige persönliche Daten aus dem Mobiltelefon ausliest und datenkapitalistischen Unternehmen wie Google überlässt, was auch schon die Stiftung Warentest kritisiert hat. »Nach über zwei Jahren juristischer Verzögerungstaktik des Konzerns«, wie der Verein im Internet schreibt, kam es im Mai dieses Jahres zur ersten Gerichtsverhandlung vorm Landgericht Frankfurt am Main. »Die Anwält*innen der Bahn überziehen das Gericht derzeit mit umfangreichen Schriftsätzen, so dass unklar ist, wann es in der Sache weitergeht«, teilt Digitalcourage gegenüber junge Welt mit.

Gegen den Verkauf des Deutschlandtickets ausschließlich für digitale Geräte richtet sich eine Übersicht von Digitalcourage im Internet, in der alternative Angebote anderer Verkehrsunternehmen aufgelistet sind. Wie wichtig der Bahn dieser Digitalzwang ist, zeigt sich daran, wie sie kürzlich gegen den Greifswalder Rechtsanwalt Korbinian Geiger vorgegangen ist. Der hatte im Februar bei einer Fahrt mit einem Regionalzug nach Ansicht der Bahn keinen gültigen Fahrschein, weil er sich das Deutschlandticket ausgedruckt hatte. Sie verlangte von ihm ein erhöhtes Entgelt (also eine Strafe) von 60 Euro plus Mahngebühr und Kosten für ein Inkassounternehmen. Geiger ging dagegen vor Gericht, was die Bahn zu einer Widerklage bewog. Sie wollte also die Forderungen auch gerichtlich durchsetzen, nahm sie dann aber zurück und akzeptierte Geigers Rechtsauffassung.

Der Anwalt wies darauf hin, dass sein Deutschlandticket bei der Kontrolle erfolgreich gescannt worden war, und dass die Beförderungsbedingungen der Bahn die Festlegung enthalten: »Digitale Tickets können in ausgedruckter Form oder digital vorgezeigt werden.« Gegenüber junge Welt sagt Geiger: »Es ist völlig egal, von welchem Medium das Ticket ausgelesen wird. Andernfalls hätte die Bahn längst das Vorzeigen digitaler Tickets auf Papier verboten.« Sie verkauft ja selbst Ausdrucke sogenannter Onlinetickets.

Wegen all der genannten Kritiken hat Digitalcourage 2024 der Bahn einen seiner berühmt-berüchtigten Negativpreise, den Big Brother Award, zugesprochen. Kritisiert wurde dabei, dass sie »Digitalisierung dafür einsetzt, anonymes Reisen nach und nach komplett unmöglich zu machen«.

Pseudo-Personalisierung

Digitalcourage kritisiert zudem gegenüber junge Welt die (vermeintliche) Personalisierung von Fahrscheinen: »Ein gänzlich anonymes Ticket wäre nicht nur für Datenschutzbewusste hilfreich, sondern kann auch für gefährdete Personen oder Journalist*innen bei sensiblen Recherchen lebenswichtig sein.« Angeblich sind die verbilligten Fahrscheine personalisiert, aber das ist schon grundsätzlich unzutreffend. Verlangt wird da nach wie vor die Angabe eines Namens, das stellt aber keine Personalisierung dar, denn alle Personen gleichen Namens können mit so einem Fahrschein fahren. Was die Bahn in dieser Hinsicht treibt, hat mit der eigentlichen Tätigkeit eines Eisenbahnunternehmens nichts zu tun, ist vielmehr sogar kontraproduktiv.

Das geht schon bei der Bahn-Card los. Die gilt eigentlich nur in Verbindung mit einem Identitätsnachweis, aber der wird bei der Fahrscheinkontrolle so gut wie nie verlangt. Solange das so bleibt, ist der Missbrauch der Bahn-Card jetzt leichter als früher. Sie soll möglichst auf einem digitalen Gerät vorgezeigt werden, aber wer das nicht will, kriegt eine Datei, die er sich auf einer DIN-A4-Seite als sogenanntes Ersatzdokument ausdrucken muss. Die Datei kann beliebig oft weitergegeben und ausgedruckt werden.

Solange die Schaffnerin keinen Ausweis sehen will, ist zudem ständiger Betrug mit Fahrscheinen ziemlich leicht. Am Fahrkartenschalter werden nämlich nicht nur normale Ausdrucke auf Papier verkauft, auf Wunsch wird die dazugehörige Datei auch per E-Mail verschickt. Ich kann so beispielsweise für die Weihnachtstage, an denen die Züge traditionell voll sind, für eine vielbefahrene Strecke wie Berlin–Köln oder Berlin–München einen Standardfahrschein kaufen, der nicht für eine bestimmte Verbindung, sondern einen beliebigen Zug am betreffenden Tag gilt. Dann kann ich den Fahrschein – sei es digital oder auf Papier – an etliche Leute weiterreichen, von denen jeder einen anderen Zug nimmt. Nach Köln und München fahren von Berlin aus ungefähr stündlich Züge. Wenn ich sechs Menschen dafür finde, kann ich den Fahrschein für ein Sechstel des Preises verkaufen, bei zehn für ein Zehntel. Das lohnt sich dann auch für Leute, die nur nach Münster oder Nürnberg wollen. Aus den Argumenten, die die Bahn für die sogenannte Personalisierung vorträgt, folgt, dass sie es nicht bemerkt, wenn ein Fahrschein in mehreren Zügen genutzt wird.

So rechtfertigte das Oberlandesgericht Frankfurt im erwähnten Urteil zur Klage des VZBV die Pseudo-Personalisierung mit dem von der Bahn vorgebrachten Argument, für den »Einnahme-, Vervielfältigungs-, Missbrauchs- und Übertragungsschutz« sei »die Erhebung der Identitätsdaten des Kunden erforderlich«. Das geschieht ja aber gar nicht, wenn jemand am Bahnschalter einen Fahrschein kauft.

Hessens Datenschutzbeauftragter Alexander Roßnagel – der wegen des Sitzes der DB Fernverkehr AG in Frankfurt zuständig ist – gesteht der Bahn sogar das Recht zu, am Verkaufsschalter zur Identitätsfeststellung die Meldeanschrift zu erheben. Auf Anfrage teilt er schriftlich mit, »dass ein Onlineticket eine Fahrtberechtigung darstellt, die nicht auf einem Wertpapier wie z. B. einem Fahrschein (wie es beim Automaten der Fall ist) ausgegeben wird. (…) Insofern dient die Erhebung des Vor- und Nachnamens dem Schutz vor einer missbräuchlichen Verwendung und erfolgt im Einklang mit dem Datenschutzrecht.« Er verweist auf eine Prüfung der Problematik durch seine Behörde von 2013, als er noch Juraprofessor in Kassel war. Damals hatten sich mehrere Menschen darüber beschwert, dass sie beim Onlinekauf persönliche Angaben machen mussten, die beim Kauf am Schalter nicht verlangt wurden. Die Datenschutzbehörde hielt das für rechtens, mit der nun vorgetragenen Begründung.

Die Bahn bezeichnet heute aber auch die Ausdrucke, die sie am Schalter verkauft, als Onlinetickets. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, dass sie da nicht – wie noch 2013 – ebenso »Wertpapiere« verkauft wie an den nur wenige Meter entfernt stehenden Automaten. Darauf angesprochen, antwortet Roßnagel ausweichend, »dass die Deutsche Bahn nicht durch meine Behörde dazu gezwungen werden kann, Fahrkarten (auf Wertpapier) in ihren Reisezentren anzubieten«. Doch in den sogenannten Reisezentren liegt auch heute noch Wertpapier in den Druckern. Noch im April habe ich am Schalter einen Fahrradfahrschein gekauft, der auf dem dicken Sicherheitspapier ausgedruckt wurde, das viele Jahre lang der Grundstoff aller Fahrscheine war.

Widersprüchliche Begründungen

Es ist also alles Unsinn: Die Bahn verkauft papierne Fahrscheine, die sie Onlinetickets nennt.Um sogenannten Missbrauch zu verhindern, will sie sie personalisieren, verlangt dafür aber nur Namen, was keine Personalisierung bewirkt. Weil sie Fahrkarten am Schalter nicht mehr auf Sicherheitspapier verkauft, soll sie das Recht haben, bei jedem Verkauf Ausweisdaten zu verlangen, damit die papiernen Onlinetickets nicht mehrfach verwendet werden. Und trotz des ganzen Digitalisierungszinnobers kann sie bei der digitalen Fahrscheinkontrolle offenbar nicht feststellen, dass ein QR-Code in mehreren Zügen auf derselben Strecke benutzt wird, denn sonst bräuchte sie keine Namen – die Fahrscheine sind also durch die neue Verkaufspraxis leichter zu fälschen als früher. All das ist nicht der Fall bei den teuren Fahrscheinen, die weiterhin anonym und auf Sicherheitspapier an Automaten erhältlich sind und dann auch weitergegeben werden dürfen. Der Bahn kann es ja egal sein, wen sie transportiert.

Auf konkrete Fragen zu all dem schickt die Pressestelle der Bahn eine überwiegend ausweichende Antwort, in der sie keine eigenen Interessen, sondern nur folgenden Missbrauch benennt: »Wären die Fahrkarten nicht personalisiert, bestünde die Gefahr, dass zum Buchungsstart größere Kontingente aufgekauft und dann zu höheren Preisen weiterverkauft würden – zu Lasten der Endkund:innen.« Mit dieser Begründung könnte aber eine Zwangspersonalisierung bei allen Arten von Eintrittskarten gerechtfertigt werden. Das gibt es ja schon in manchen Bereichen, und welche Gefahr damit verbunden ist, hat sich kürzlich beim Fußball gezeigt: Für das Champions-League-Spiel von Eintracht Frankfurt beim SSC Neapel am vergangenen Dienstag hat der italienische Verein – wie schon 2023 – explizit keine Karten für Menschen mit Frankfurter Adresse verkauft. Laut einem Bericht des ZDF sei es in Italien nicht ungewöhnlich, die Anwesenheit von Gästefans wegen Sorgen vor Konflikten gänzlich zu verhindern.

Der VZBV hat auf die wiederholte Frage, warum er mit seiner Klage nicht auch die sogenannte Personalisierung angegriffen hat, wochenlang explizit eine Begründung verweigert. Das und die neue Praxis des Fahrscheinverkaufs, die aus der Sicht eines reinen Eisenbahnunternehmens keinen Sinn ergibt – ihm vielmehr sogar potentiell schadet, da sie Missbrauch erleichtert –, offenbaren, dass der Digitalzwang auch auf einer Ideologie basiert, die unhinterfragt übernommen wird.

Ralf Hutter schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Juli 2025 darüber, wie entgegen der Rechtslage Kinder und Jugendliche von streitenden Elternteilen oft getrennt werden: »Vom Staat getrennt«

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (10. November 2025 um 12:45 Uhr)
    Kampf der Digitaldiktatur, solange das noch möglich ist! Denn ist diese erst einmal allumfassend etabliert, hat das reale Leben endgültig verloren, d.h., Selbstbestimmung, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des einzelnen Menschen werden unumkehrbar der Vergangenheit angehören. Und das ist dann die totale globale Despotie, von der die psychopathischen High-Tech-Milliardäre jetzt schon träumen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Carsten G. aus Leipzig (8. November 2025 um 16:57 Uhr)
    Vielen Dank für diesen sehr interessanten Text; auch mich als häufigen Bahnfahrer stört das Agieren der DB gerade auch in Bezug auf die Kontrolle der Bahncard. Auf einen Sachverhalt, der Text leider gar nicht vorkam, möchte ich dennoch hinweisen: In Deutschland sind neben der Landespolizei und der Bundespolizei auch der Zoll und unter bestimmten Voraussetzungen je nach Landesrecht das Ordnungsamt berechtigt, von Bürgern in der Öffentlichkeit das Vorzeigen eines amtlichen Ausweises zu Identifikationszwecken zu verlangen. Das heißt, dass das Zugpersonal gar nicht zur Kontrolle von amtlichen Dokumenten berechtigt ist, daher »nur« telephonisch eine Polizeistreife an den nächsten Haltepunkt beordern könnte — und die eigentliche Kontrolle obliegt dann den Beamten. Ich weiß, daß dieses Argument beim nächsten Kontrollbegehren für Unmut auf der Personalseite sorgen wird; aber so sind nun mal die Gesetze.
    • Leserbrief von Peter Nowak aus Berlin (10. November 2025 um 14:46 Uhr)
      In der letzten Zeit haben fast alle Kontrolleur*innen beim Deutschlandticket das Vorzeigen eines Personalausweises verlangt. Sollte es stimmen, dass diese Maßnahme rechtlich fragwürdig ist, so ist sie doch gängige Praxis im Regionalverkehr. Peter Nowak
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. November 2025 um 20:46 Uhr)
    Wieso Ziel? Dieses Land ist doch volldigital: Entweder es geht, oder es geht nicht. Meistens geht’s nicht (so recht). Ein repetitives Signal mit einem Impuls-Pausenverhältnis von eins zu drei hat fast keine Oberwellen, ersetzt also das Loch, das eine gleichfrequente analoge Sinuswelle hinterlässt, vollständig.

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