Zukunft im digitalen Staat
Von Gerrit Hoekman
Ein historischer Augenblick in der Geschichte des Volks der Roma: Die wichtigsten Familien und Organisationen haben im niederländischen Haarlem ihren ersten souveränen Staat ausgerufen. Die Proklamation fand fast unbemerkt bereits am 9. Oktober statt. Der neue Staat wird nonterritorial sein, das heißt, einer ohne Staatsgebiet, wie es in einer Mitteilung der Roma Intelligence & Administration Agency (RIAA) vom Freitag hieß. »Wir sind ein Volk mit eigener Kultur und Sprache«, wurde RIAA-Präsident Aleksandar Gavrilovic darin zitiert. »Nach Jahrhunderten der Zerstreuung und Ausgrenzung organisieren wir uns nun strukturell, um die uns durch internationale Verträge zustehenden Rechte wahrzunehmen.« Mit der »Proklamation von Haarlem« würde für Roma eine neue Ära der politischen und gesellschaftlichen Repräsentation beginnen.
Die Proklamation fand am Sitz der königlichen Druckerei Johann Enschedé in Haarlem statt. Kein Zufall: Enschedé druckt für Staaten Reisepässe und Banknoten. »Dieser Standort verkörpert Legitimität und Vertrauen«, so Gavrilovic. »Diese Werte wollen wir auch in unserer digitalen Infrastruktur, unseren eigenen Registrierungssystemen und zukünftigen Kryptowährungen zum Ausdruck bringen.« Die Anerkennung als Staat erfordere eine zuverlässige Verwaltung, die auf Sicherheit und Integrität aufbaue.
Das schon länger bekannte Konzept des virtuellen oder nonterritorialen Staats sieht vor, dass alle Angehörigen einer Volksgruppe ein Kollektiv bilden, egal, wo sie wohnen. Das politische und wirtschaftliche Leben des Staats ohne Gebiet findet vor allem im Internet statt. »Unser Staat existiert im digitalen Raum, ist aber in unserer gemeinsamen Kultur verwurzelt. Wir sind ein vollwertiger Gesprächspartner auf der globalen Bühne«, erklärte Gavrilovic.
Besonderer Wert soll auf die Bewahrung des kulturellen Erbes und der Geschichte der Roma gelegt werden. »Wie andere Minderheiten wurden Roma über Jahrhunderte hinweg verfolgt, ausgegrenzt und ignoriert. Von Sklaverei bis Deportation, von struktureller Armut bis hin zu stiller Ausgrenzung – die Roma haben viel ertragen«, heißt es auf der Internetseite der niederländischen Nederlandse Roma Vereniging (NRV). »Und doch ist die Geschichte der Roma auch eine Geschichte von Stärke, Stolz und Solidarität.«
Die Proklamation sei in Absprache mit Roma-Familienoberhäuptern, Vertretern und Organisationen entwickelt worden, »die ihre Unterstützung aus der Ferne zum Ausdruck brachten oder durch Delegierte teilnahmen«, antwortete Kole Pavlov von der NRV am Montag auf eine Anfrage der jW. »Dadurch war die Unterzeichnung in Haarlem nicht nur ein lokales Ereignis, sondern wurde international unterstützt.« Pavlov betonte, dass der Schritt weder eine territoriale Separation bedeute noch einen »Anspruch auf politische Macht« beinhalte.
Das Ziel sei erstens, die Menschenwürde und Sichtbarkeit der Roma zu stärken, zweitens, ein digitales und administratives System zu entwickeln, und drittens, die Roma-Gemeinschaft »als gleichberechtigte Partnerin in europäischen und internationalen Gesellschaften zu organisieren«. »Ohne Grenzen oder territoriale Ambitionen«, so Pavlov. »Wir bauen nicht auf Macht, sondern auf Bewusstsein, Solidarität und die Kraft unserer Geschichte.«
Die Roma stammen ursprünglich wohl aus Nordindien, wo sie sich um etwa 400 u. Z. auf Wanderschaft begaben. Dabei zogen sie immer weiter westwärts und kamen schließlich nach Europa. Willkommen geheißen wurden Roma so gut wie nie. Im Gegenteil: Sie wurden ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Bis heute leben viele in bitterer Armut. Die Nazis versuchten, sie gemeinsam mit den Sinti auszurotten. Das Schicksal des in Hannover aufgewachsenen Profiboxers und deutschen Meisters von 1933, Johann »Rukeli« Trollmann, steht beispielhaft für den Mord an wohl weit mehr als 100.000 Roma. Trollmann starb am 9. Februar 1943 in einem Außenlager des KZ Neuengamme in Wittenberge.
Die Staatsproklamation soll das Volk der Roma in eine bessere Zukunft führen. »Mit diesem Schritt legen wir den Grundstein für eine neue Generation, damit sie mit Identität, Vertrauen und Chancengleichheit in einer Gesellschaft aufwachsen kann, die sie anerkennt und respektiert«, hofft Pavlov.
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