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Aus: Ausgabe vom 13.10.2025, Seite 12 / Thema
Kunstgeschichte

Porträtist seiner Klasse

Friedrich Zundel war der Maler des erwachenden proletarischen Selbstbewusstseins. Sein sozialistischer Realismus avant la lettre war von Clara Zetkins Kunsttheorie inspiriert
Von Sophie Voigtmann
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Georg Friedrich Zundel: Streik (1903)

Vor 150 Jahren, am 13. Oktober 1875, wurde Georg Friedrich Zundel in der Nähe von Pforzheim geboren. Der heute weitgehend unbekannte Künstler erreichte seine Hochphase in kreativer und politischer Hinsicht an der Seite der kommunistischen Theoretikerin und Kriegsgegnerin Clara Zetkin. Im Umfeld der politischen Avantgarde und sozialistischen Kulturszene in Stuttgart malte er Arbeiterporträts, die den Sozialistischen Realismus vorwegnahmen.

Nach dem frühen Tod seiner Mutter verlässt Zundel im Alter von vierzehn Jahren sein kleinbürgerliches Elternhaus und lässt sich zunächst zum Dekorationsmaler ausbilden, bevor er in den 1890er Jahren an der Kunstgewerbeschule Karlsruhe und der Königlichen Kunstschule Stuttgart zu studieren beginnt. Schon früh lernt er die Nöte der Arbeiter kennen, in Stuttgart kommt er in Kontakt mit sozialistischen Ideen, besonders beeindruckt ihn eine Rede August Bebels.

Um sich mit einem vom Rektor bestraften Kommilitonen zu solidarisieren, organisiert er mit dem Grafiker Felix Hollenberg einen Streik an der Kunstschule, bei dem den Professoren der Zugang zu ihren Ateliers verwehrt wird. Die beiden bekennen sich offen zur Sozialdemokratie und werden daraufhin von der Schule ausgeschlossen, so dass Zundel, Meisterschüler im fünften Semester, schlagartig sein dortiges Atelier, seine Aufträge und damit seine Existenzgrundlage verliert – Sorgen und Melancholie zeigen sich in der Folgezeit auch in seinen Bildern.

Beratung und Unterstützung erhält er von der achtzehn Jahre älteren Clara Zetkin, die – nach dem Tod ihres Lebenspartners Ossip Zetkin im Pariser Exil und ihrer ersten großen Rede zur Frauenfrage auf dem Gründungskongress der Sozialistischen Internationale 1889 – mit ihren Söhnen nach Stuttgart gezogen war und als Übersetzerin für den Verlag J. H. W. Dietz und Chefredakteurin für dessen sozialistische Arbeiterinnenzeitung Die Gleichheit arbeitet.

Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen Zetkin und Zundel. Dass Parteigenossen wie Bebel davon alles andere als begeistert sind, hindert die beiden nicht daran, zu heiraten. 1903 bauen sie in Sillenbuch bei Stuttgart ein Landhaus mit Atelier – die »Villa Zundel« wird zu einem kulturellen und politischen Zentrum der sozialistischen Avantgarde: Die Kautskys, Liebknecht, Westmeyer, Mehring, Kollontai und sogar Lenin sind unter den Gästen. Häufig und oft wochenlang zu Gast ist auch Rosa Luxemburg, die noch in ihren Gefängnisbriefen von dem blühenden Garten schwärmt. 1907 kauft Zundel – als erster in Sillenbuch – ein Auto, ein Cabriolet von Daimler. Luxemburg schreibt daraufhin begeistert, dass sie sich schon »diebisch« auf das »Autosausen« freue.

Der Mensch im Mittelpunkt

Zundel verdient seinen Unterhalt mit Porträts für adlige und wohlhabende Auftraggeber, doch fühlt er sich den sozialen Forderungen seiner Zeit verbunden. »Als überzeugter Sozialist« steht er vor der »Frage, wie er seine Kunst in den Dienst des Klassenkampfes stellen« kann, so der Kunsthistoriker Daniel J. Schreiber. In der Zeit, als er Zetkin kennenlernt, entstehen auch seine ersten Arbeiterporträts, lebensgroß und mit besonderem Fokus auf Körper und Gesichter. Der Mensch, wie ihn die Klassengesellschaft hervorbringt, steht im Mittelpunkt. Zundels »Beitrag zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist es«, so Schreiber, »die Gattung des Porträts auf die dritte Klasse übertragen zu haben« – er zeigt sie nicht arbeitend, sondern ruhig und gefasst. Damit schafft er »für das neu erwachte Selbstbewusstsein des Proletariats eine Ausdrucksform«.

Im Vergleich zu früheren Werken weichen Pathetik und Dramatik einer einfachen und klaren Bildkonzeption. Zundel verzichtet auf Symbole, Darstellung und Farbgebung sind reduziert auf das Wesentliche. Die sachlich-realistische Darstellung bringt den Widerspruch zwischen den herrschenden Verhältnissen und der alltäglichen subjektiven Erfahrung zum Ausdruck, sie erhält bei Zundel sozialpsychologischen Charakter. Sensibel stellt er menschliche Empfindungen wie Stolz, Verzweiflung, Freude oder Verbitterung dar, die Persönlichkeit des Individuums wird zum Symbol der aufbegehrenden Arbeiterklasse.

Schreiber zufolge hat Zundel damit früh »seine Form des Sozialistischen Realismus entwickelt«. Die Zeit, in der er im Umfeld der sozialistischen Avantgarde lebt, fällt mit seiner kreativsten und fruchtbarsten Phase zusammen. Besonders die im Dialog mit Zetkin geschaffenen Porträts markieren den »malerischen Höhepunkt« in Zundels Werk.

Zetkin beschreibt eines von Zundels Bildern als »ein Kunstwerk, in der Form so vollendet, im Inhalt so konzentriert, ruhige, besonnte Kraft, dass ich mich in den schwersten Augenblicken daran erheben konnte«. Während sie mit ihm zusammenlebt, befasst sie sich zunehmend mit Literatur, Musik und bildender Kunst. Im Kulturteil der Gleichheit, bei deren Herausgabe er sie unterstützt, druckt sie klassische und zeitgenössische literarische Beiträge und kommentiert Entwicklungen im Bereich der Kunst.

Ende 1910 hält Zetkin vor dem Bildungsausschuss der Stuttgarter Arbeiterschaft einen Vortrag, der im folgenden Jahr unter dem Titel »Kunst und Proletariat« herausgegeben wird. Darin erklärt sie, dass Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft unfrei sind, weil sie ihre Werke für den Warenmarkt produzieren müssen. Die Kunst wird unter diesen Bedingungen zu dekadenter, oberflächlicher und effekthascherischer Unterhaltung und Spielerei. Das zeigt sich als inhaltsleeres naturalistisches Kopieren der Wirklichkeit oder als kleinbürgerlicher – völkischer, nostalgischer, mystisch-religiöser oder romantischer – Idealismus ohne Bezug zur gesellschaftlichen Realität. Obwohl die Lebensbedingungen des Proletariats eine künstlerische Entfaltung behindern, ist die revolutionäre Arbeiterklasse der Wegbereiter einer zukünftigen freien Kultur. Die proletarische Kunst muss laut Zetkin dem Selbstbewusstsein des kämpfenden Proletariats Ausdruck verleihen, also einen sozialistischen Inhalt haben. Solche politische Kunst wird in der bürgerlichen Gesellschaft verschrien, obgleich deren Kunst selbst politisch wirkt – allerdings klar im Sinne des Erhalts, der Verschleierung und Beschönigung der bestehenden Ordnung.

Diese wichtigste Arbeit Zetkins im Bereich der sozialistischen Kunsttheorie bezeichnet der Kunsthistoriker Götz Adriani als das »unverkennbar von Zundel geprägte Ergebnis« der Diskussionen, welche die beiden über politische Kunst führen. Zetkin will damit auch Zundel »eine Freude machen«, da sie »ihm für Arbeit, Freude und Genießen auf dem Gebiete der Kunst unendlich viel« verdankt, wie sie an Mehring berichtet.

Zundel und Zetkin inspirieren sich gegenseitig, Zetkins Ansichten finden sich in seinen Bildern wieder. In »Kunst und Proletariat« schreibt sie: »Erst wenn die Beherrschten als emporstrebende, rebellierende Klasse einen eigenen geistigen Lebensinhalt bekommen; erst wenn sie kämpfen, um drückende soziale, politische, geistige Fesseln zu sprengen: Erst dann wird ihr Einfluss auf das künstlerische Kulturerbe der Menschheit zu einem selbständigen und daher wirklich fruchtbaren, zu einem entscheidenden.« Seinem Sohn Georg zufolge spiegelt dieser Satz Friedrich Zundels Werdegang vom Arbeiter zum freischaffenden Künstler wider.

Maler für den Sozialismus

Zundel erlangt mit seinen Werken um die Jahrhundertwende offizielle Anerkennung bei Ausstellungen in Deutschland, aber auch international in Paris, Brüssel und Wien. Das Angebot einer Professur an der Münchner Kunstakademie lehnt er aus persönlichen Gründen ab – vermutlich mit Rücksicht auf Zetkin, die er unterstützt und pflegt, wenn sie, wie es in dieser Zeit immer häufiger vorkommt, krank ist. Um 1898 malt er sie: »Es ist ein schönes Porträt, in dunklen Farben gehalten, mit den Augen der Liebe konzipiert, und zeigt uns die Denkerin Clara Zetkin, die tief hineinblickt in die Gesetze des Lebens und des Werdens der Menschheit, ihren Sinn begreift«, beschreibt die Zetkin-Biographin Luise Dornemann das Bild.

Ein größerer Erfolg als Maler wird durch seine politischen Überzeugungen sowie seine Ehe mit Zetkin verhindert. Die sozialistische Presse lobt jedoch seine Unabhängigkeit von den Trends des Kunstbetriebs und feiert ihn als Paradebeispiel revolutionärer Kunst. So schreibt Otto Krille in der sozialdemokratischen Zeitung Arbeiterjugend vom 4. Juni 1910, dass Zundels Werke, in denen er den Arbeiter selbstsicher und kämpferisch zeigt und der »entschlossene Ernst des proletarischen Wollens« zum Ausdruck kommt, gar keinen Erfolg auf dem bürgerlich dominierten Kunstmarkt haben könnten, wo man die offene Konfrontation mit der unterdrückten Klasse vermeide. Krille lobt, dass Zundel dem »Sehnen des um seine Befreiung kämpfenden Proletariats künstlerischen Ausdruck« verleiht und den klassenbewussten Arbeiter »in seiner ganzen menschlichen und sozialen Persönlichkeit« darstellt.

Franz Mehring sieht in Zundel einen hochbegabten Künstler, er besucht mit Rosa Luxemburg eine Ausstellung in Berlin, um dessen Bilder zu sehen. Noch bis zu ihrer Ermordung hängt in Luxemburgs Wohnung ein Gemälde Zundels, das sie »außerordentlich liebte und schätzte«, wie Zetkin schreibt.

Mit der Zeit intensiviert Zundel seine politische Arbeit als SPD‑Mitglied und unterstützt die Stuttgarter Sozialdemokratie im Bildungsausschuss, indem er Plakate entwirft und Veranstaltungsräume schmückt. Zetkin und Zundel beteiligen sich an der Finanzierung des 1909 gegründeten Waldheims in Sillenbuch, Zundel hilft bei Bau und Gestaltung des Treffpunkts und Erholungsorts der Arbeiterbewegung. »Seine Kunst diente, solange er an Claras Seite lebte, vornehmlich der Sozialdemokratischen Partei«, so Dornemann.

Politische Zweifel

Doch ab etwa 1907 schränkt Zundel seine künstlerische Arbeit zunehmend ein. Er fertigt weiterhin kommerzielle Porträts als Auftragsarbeiten, malt aber weniger Arbeiterbildnisse und kümmert sich nicht mehr um seine öffentliche Wahrnehmung in Ausstellungen. Georg Zundel nennt in seinen Memoiren als wesentlichen Grund hierfür das »parteipolitische Engagement« seines Vaters. Schreiber zufolge zweifelt der Maler allerdings zunehmend »an der Relevanz der Kunst für den Klassenkampf«, die Kunsthändler Thomas Maier und Bernd Müllerschön deuten an, dass Zundel »sich und seine Kunst (…) nicht von der Politik vereinnahmen« lassen will und »Zweifel in der politischen Überzeugung« entwickelt. Laut Dornemann gerät er bald in eine »moralische Krise«, wendet sich vom Sozialismus und von Zetkin ab.

In dieser Zeit entwickelt sich auch die Beziehung zur Industriellentochter Paula Bosch: Deren Eltern Anna und Robert beauftragen ihn, ihre Kinder zu porträtieren, die in der Stuttgarter Rote­bühlstraße in unmittelbarer Nachbarschaft Zetkins aufgewachsen sind. Schreiber zufolge ist Zundel zunächst der älteren Schwester Margarete zugeneigt, doch er verliebt sich kurz darauf in die siebzehnjährige Paula, »mit der ihn fortan eine innige Liebesbeziehung verbindet«.

Infolge von Kündigungen kommt es 1913 zu Streiks bei der »Bosch-Metallwerk AG«, die Robert Bosch mit der Aussperrung Tausender Arbeiter beantwortet. Margarete und Paula, die nachts die Lieder der streikenden Arbeiter hören, stellen sich gegen den Vater, der entnervt seiner Frau schreibt, dass er nun »auch noch zu Hause (…) angegriffen werde«. Infolgedessen ziehen die beiden nach Tübingen, wo Margarete als eine der ersten Frauen Volkswirtschaft studiert und 1920 ihre Doktorarbeit über »Die wirtschaftlichen Bedingungen der Befreiung des Bauerstands« verfasst.

Später berichtete Georg Zundel: »Während mein Vater seine Bilder der Arbeiter schuf, agierte Frau Zetkin in ganz Deutschland mit flammenden Reden gegen den drohenden Krieg.« Doch im August 1914 stimmt die SPD-Reichstagsfraktion in die nationalistische Kriegshetze ein und befürwortet das Sondervermögen, mit dem der Erste Weltkrieg beginnt. Zetkin, inzwischen in den Parteivorstand gewählt, zählt mit Luxemburg, Liebknecht und Mehring zu den wenigen konsequenten Kriegsgegnern. Schon am 2. August findet um 5 Uhr morgens die erste große Hausdurchsuchung in Sillenbuch statt. Die ansässige Bevölkerung wendet sich zunehmend gegen Zetkin, ihre Hunde werden vergiftet, sie schreibt, es herrsche eine »Pogromstimmung« um sie. Im März 1915 organisiert sie in Bern eine internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg, bei ihrer Rückkehr wird sie verhaftet und erst Monate später, infolge von Protesten und wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes, gegen eine Kaution, die der Verleger Dietz zahlt, entlassen. Sie leidet weiterhin unter Repressionen wegen ihrer Antikriegshaltung: Ihre Post wird beschlagnahmt, sie wird bespitzelt, verfolgt und wiederholt verhaftet.

Auch ihre engen Freunde und Genossen Luxemburg und Liebknecht werden inhaftiert. Ende Mai 1917 schreibt Zetkin an Luxemburgs Sekretärin und Vertraute Mathilde Jacob, dass sie echten Zucker bekommen und diesen nach dem Willen Zundels »redlich geteilt« habe, um einen Teil davon an Liebknecht zu schicken. Auch als es darum geht, Verschiedenes für Luxemburg zu besorgen, weiß Zetkin, dass sie auf ihren Mann zählen kann, denn er »tut für Rosa alles herzlich gern«.

Zundel meldet sich freiwillig für den Dienst als Sanitätsfahrer beim Roten Kreuz, laut Zetkin aus »rein humanitären Gesichtspunkten« und »nicht etwa aus irgendwelchen chauvinistischen Gefühlen heraus«; er wolle nicht an die Front und die »Uniform des deutschen Militarismus« tragen. Sie beklagt, dass der Einsatz ihn krank macht: »Friedel fährt sich für das Rote Kreuz zuschanden.« Er leidet unter körperlichen Schmerzen, epileptischen Anfällen, Schlaflosigkeit, ist nervlich am Ende – und, zum Leidwesen seiner Frau, »medizinmisstrauisch«. Trotz seiner fortschreitenden Krankheit wird er weiterhin eingesetzt, Zetkin meint: »Aus politischen Gründen! Eine Ungeheuerlichkeit, die unter den Umständen einem Mord gleichkommt.« Im Februar 1917 stellt sie fest: »Solange dieses entsetzliche Völkermorden dauert, wird er kaum äußerlich und innerlich die Ruhe haben, als Künstler zu schaffen. In der sehr kargen freien Zeit studiert er eifrig und flüchtet damit in eine reinere Welt.«

Im Spätherbst 1918 wird auch in Stuttgart ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, Forderungen nach Waffenstillstand, Enteignungen und Rücktritt der Regierung werden laut, Zetkin spricht auf den revolutionären Versammlungen. Der württembergische König Wilhelm II. lenkt ein, am 9. November bringt ihn eine Delegation der Räte – laut Georg Zundel ein von seinem Vater geleitetes Sanitätskorps – in sein Jagdschloss Bebenhausen bei Tübingen. Zetkin zufolge verbringt Zundel diese Zeit jedoch schwer krank zu Hause und im Krankenhaus, »weil schroff bei Tag und Nacht nervöse Anfälle eintreten, die ihm Todeskampf- und Todesangstgefühle bringen«. Anfang Januar spricht Zetkin bei einer der Kundgebungen im Rahmen des Aufstands, der von den konterrevolutionären württembergischen Sicherheitstruppen – ein von der Regierung organisierter paramilitärischer Ordnungsdienst – niedergeschlagen wird. Sie kritisiert später, dass »die Regierung sich mit ihren Maßnahmen auf den Boden der nackten, der brutalen Gewalt gestellt hat«.

Bruch mit Zetkin

Es existieren lückenhafte und widersprüchliche Angaben zu der Frage, wann und weshalb es zum Bruch zwischen Zetkin und Zundel kommt, jedenfalls zeichnet er sich im Laufe des Krieges immer deutlicher ab. Dornemann berichtet von »harten politischen Auseinandersetzungen«, die beiden leben nicht länger zusammen. Später schreibt Zetkin, dass sie Zundel »lebendig begraben« musste; ihn loszulassen muss der mittlerweile Sechzigjährigen schwergefallen sein, sie stimmt der Scheidung erst 1927 zu. Luxemburg deutet Anfang 1917, bezugnehmend auf Zetkin und die Situation in Sillenbuch, an, dass sie mit Zundel Mitleid habe: »Im Privatleben eine Menschenseele aus wahnsinniger Leidenschaft versklaven – ich begreife das nicht und verzeihe es nicht.«

Als im Januar 1919 der Mord an Luxemburg und Liebknecht öffentlich wird, schreibt Zetkin, dass Verständnis zwischen ihr und Zundel herrsche und dieser »selbst aufs Tiefste getroffen« sei, da er »Rosa geschätzt und geliebt« habe. Täglich erhält sie Briefe, in denen ihr »Rosas Schicksal angedroht wird«. Tatsächlich muss sie in den folgenden Jahren wiederholt vor faschistischen Anschlagsplänen geschützt werden. Als Zetkin 1920 Reichstagsabgeordnete für die KPD wird, zieht sie nach Birkenwerder bei Berlin und hält sich kaum noch in Sillenbuch auf.

Zundel malt immer weniger; nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg erstellt er zahlreiche Einzelstudien und Skizzen in Kreide, Aquarell und Kohle, doch selten realisiert er seine Entwürfe als Gemälde. Schon vor dem Krieg hat sich abgezeichnet, dass sowohl seine künstlerischen Arbeiten als auch die sonstigen Aktivitäten »unpolitischer und auch unverbindlicher« wurden, so Maier und Müllerschön. Er stehe seit der »allmählichen Abwendung von Zetkin und der Hinwendung zu Margarete und Paula Bosch zwischen 1907 und 1913« zunehmend unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung, die der Entfremdung und Lebensfeindlichkeit in der kapitalistischen Industriegesellschaft durch Rückzug in Natur und Privatleben zu entkommen sucht.

Robert Bosch lässt am Waldrand des Schönbuchs in Tübingen-Lustnau den Berghof bauen, der maßgeblich von Zundel konzipiert wird. Ab Anfang der 1920er Jahre lebt dieser mit Paula Bosch und ihrer Schwester Margarete dort und errichtet auch ein großes Atelier. Doch er widmet sich zunehmend der landwirtschaftlichen Arbeit und kanalisiert seinen Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung in der Hinwendung zu einer alternativen Lebensweise.

Die Entwicklung von revolutionär-proletarischen hin zu humanistisch-reformerischen Ansätzen spiegelt sich in seiner künstlerischen Arbeit. Neben Familienporträts und Landschaftsskizzen entstehen idealisierende Darstellungen literarischer, religiöser und philosophischer Themen. Dementsprechend sind die Bilder zunehmend pathetisch und sakral aufgeladen. In dem wiederkehrenden Motiv der Erduldung und Überwindung von Leiden kommt eine für die Kunst um den Ersten Weltkrieg charakteristische Erlösungssehnsucht zum Ausdruck. Spartakus, Prometheus und Christus dienen ihm als Hoffnungsträger. Götz Adriani vermutet einen Konflikt mit der sozialistischen Theorie als Grund dafür, dass der Maler sich »im politisch entscheidenden Moment (…) ins individualistische Portrait beziehungsweise ins scheinbar unverbindlich Mythologische« zurückzieht.

»Die Schrecken des Ersten Weltkriegs hinterließen«, so Schreiber, »im Denken und Handeln des überzeugten Pazifisten Zundel deutliche Spuren.« Obwohl er sich zuvor stark für die Sozialdemokratie engagiert hat, geht er nicht, wie Maier und Müllerschön es formulieren, »den revolutionären marxistischen Weg, den seine Frau Clara Zetkin in exponierter Stellung« vertritt. Dornemann fällt ein deutliches Urteil über sein politisches Versagen: Zundel »wich zurück, als es hieß, im Lager der deutschen Linken, unter der Fahne Karl Liebknechts, den illegalen Kampf gegen den Krieg aufzunehmen«.

Friedrich und Paula heiraten 1928, drei Jahre darauf wird der einzige Sohn Georg geboren. Sie kaufen immer mehr Land und einen weiteren Hof im oberschwäbischen Haisterkirch bei Bad Waldsee, wo sie Viehzucht betreiben, und beschäftigen einige Angestellte, während des Zweiten Weltkriegs auch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus Frankreich und Polen. Zundel wird Ehrenvorsitzender des Braunviehzuchtverbands – und soll laut der Dokumentation »Das Auge blickt fest in proletarischem Trotz« (1990) später sogar der NSDAP beigetreten sein.

Leerer Idealismus

Anstatt soziale Wirklichkeit darzustellen, flüchtet der Künstler um den Ersten Weltkrieg zunehmend in idealistische Vorstellungen des Humanen. Adriani würdigt »Zundels uneitles Ringen um eine Bildidee, in deren Mitte immer der Mensch steht«, doch betrachtet er den Versuch, nach dem Krieg an frühere Darstellungen anzuknüpfen, als gescheitert: »Die Diskrepanz zwischen dem realistischen und idealistischen Anspruch war zu groß.« Die monumentalen und idealisierenden Darstellungen des Künstlers wirken unreif und unsicher.

Das Triptychon »Morgen« sollte die »Krönung seines Lebenswerkes« werden, aber erst todkrank hat Zundel Ideen zu dessen Vollendung und schafft es nicht mehr, diese umzusetzen. Wie viele andere Ansätze bleibt das Werk unfertig. 1946 bildet sich ein Geschwulst an seinem Hals, er wird operiert und stirbt schließlich unter Schmerzen am 7. Juni 1948 während heißer Sommertage im alten Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart.

Zeit seines Lebens hielt Friedrich Zundel an humanistischen Hoffnungen fest, verließ jedoch den Weg des Kampfes um die Verwirklichung sozialer Ideale, während Zetkin diesem Weg treu blieb. Sie schätzte seine kraftvollen, realistischen Proletarierbilder, die zu Recht bis heute als bedeutsamster Teil seines Werkes gelten – obwohl die bürgerliche Kunstauffassung sie nicht vollumfänglich in ihrer politischen Bedeutung zu würdigen versteht. Der einstige Maler proletarischen Selbstbewusstseins, der sich für die Sache der sozialistischen Revolution einsetzte, starb als Anhänger kleinbürgerlicher Illusionen, die ihn als Künstler und politischen Menschen in eine Sackgasse führten.

Literatur

– Götz Adriani: Georg Friedrich Zundel 1875–1975. Tübingen 1975

– Daniel J. Schreiber: Georg Friedrich Zundel. In: Ulrich Maxim Zundel (Hg.): Georg Friedrich Zundel. Leben, Werk, Hintergründe. Eningen 2013

– Georg Zundel: »Es muss viel geschehen!« Berlin 2006

Sophie Voigtmann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. April 2025 über die »Zeitenwende« und Rosa Luxemburgs Kritik der Kriegstreiberei: »Dividenden steigen, Proletarier fallen«

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