»Es gibt bisher keinerlei belastbare Garantien«
Interview: Jakob Reimann
Israels Militär hat am Freitag mitgeteilt, dass im von ihm seit zwei Jahren ununterbrochen bombardierten Gazastreifen ab 12 Uhr mittags eine Waffenruhe in Kraft getreten sei, nachdem am Vortag Hamas und Israel ein Teilabkommen unterzeichnet hatten. Wie kam es dazu?
Ganz sicher führte der große Druck von Donald Trump auf Benjamin Netanjahu zu der Einigung über die erste Phase des Friedensplans. Die Zustimmung von Hamas beruht wohl darauf, dass sie unter enormen Druck der Hauptunterstützerstaaten Katar und Türkei sowie der meisten arabischen Staaten steht. Eine größere Rolle dürfte jedoch gespielt haben, dass Hamas selbst am Ende ihrer Kräfte steht und der Bevölkerung nicht noch mehr Leid zumuten kann. Die Freilassung der israelischen Geiseln ist zu begrüßen. Auch sind die Wiederaufnahme von humanitären Lieferungen nach Gaza sowie ein Teilrückzug der israelischen Armee zu erwarten.
Laut Hamas würde die Einigung ein Ende der Angriffe und den Abzug der israelischen Truppen bringen.
Diese sehr optimistische Haltung ist verständlich, aber auch sehr naiv. Es gibt bisher keinerlei belastbare Garantien, dass sich Netanjahu nach der Freilassung der Geiseln an die erzielte Vereinbarung halten wird. Sämtliche Machtressourcen im Kriegsschauplatz bleiben in den Händen Israels. Die UN spielte bisher überhaupt keine Rolle. Die arabischen Staaten stellen, wenn überhaupt, eine Fußnote dar.
Die extrem rechten israelischen Minister Smotrich und Ben-Gvir haben bereits ihre Fundamentalopposition zu einem tatsächlichen Friedensabkommen erklärt. Könnten die Faschisten rechts von Netanjahu einen Deal noch platzen lassen?
Diese Perspektive ist ganz offensichtlich. Netanjahus Koalitionspartner drohen erneut mit dem Austritt aus dem Kabinett und dem Fall der Regierung. Alle Fraktionen der israelischen Regierung eint das zionistische Ziel der Vertreibung der Palästinenser aus ganz Palästina. Netanjahu wird nach der Freilassung der Geiseln behaupten, er hätte sein wichtigstes Ziel erreicht, sich dem Druck der extrem rechten Koalitionspartner beugen und sich weigern, die Armee aus Gaza zurückzuziehen. Die Hamas sei noch nicht vernichtet, wird es dann heißen, und der Krieg müsse fortgesetzt werden.
Hätte die islamistisch ausgerichtete Hamas in den Verhandlungen politisch mehr erreichen können?
Sie steht mit dem Rücken zur Wand. Ihre Militärstrategie ist gescheitert. Einzig der israelische Vernichtungskrieg hat die Weltöffentlichkeit über den militaristischen und rassistischen Charakter der israelischen Elite desillusioniert. Doch kein politischer Erkenntnisgewinn darf den ungeheuren Blutzoll der Palästinenser von über 67.000 Toten, 160.000 Verletzten und der Zerstörung von 80 Prozent der Infrastruktur zum Preis haben. Mit der Freilassung der Geiseln hat die Hamas nun alle Hebel aus der Hand geben müssen. Ich frage mich, warum sie keinen eigenen Friedensplan in die weltöffentliche Debatte eingebracht hat. Darin hätte sie die Beteiligung der UN an der Vereinbarung verlangen oder ihre Bereitschaft erklären können, die Waffen an eine palästinensische Regierung abzugeben, die unter Beteiligung der UN von Palästinensern in Gaza gewählt würde.
Der britische Expremier Tony Blair soll eine Führungsrolle im Gazastreifen spielen. Das erinnert an den US-Diplomaten Paul Bremer, der nach dem Überfall 2003 den Irak verwaltete.
Dieser Punkt stellt einen Offenbarungseid der arabischen Staaten dar und zeigt, wie marionettenhaft abhängig sie von den USA sind. Ihre Zustimmung dazu, dass nicht etwa eine arabische oder indische Macht, sondern ausgerechnet ein Politiker eines Landes mit der Koordination der Übergangsphase beauftragt wird, das mit der Balfour-Erklärung von 1917 erst den Grundstein für die bis heute andauernde Katastrophe legte, spricht Bände.
Mohssen Massarrat ist emeritierter Ökonomieprofessor der Universität Osnabrück und befasst sich als Autor seit Jahrzehnten mit dem Nahen Osten
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