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Aus: Ausgabe vom 06.10.2025, Seite 16 / Sport
Leichtathletik

Kaum zu glauben

Am 6. Oktober 1985 stellte Marita Koch über 400 Meter einen bis heute bestehenden Weltrekord auf
Von Andreas Müller
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Marita Koch am 6. Oktober 1985 in Canberra

Warum verausgabt sich jemand bis zur völligen Erschöpfung, um genau an den Punkt zu gelangen, von dem er loslief? Philosophen schütteln da mitunter ungläubig die Köpfe. Nicht so Fans der Leichtathletik. Sie gewinnen dem knochenharten 400-Meter-Lauf einen besonderen Reiz ab. Am 6. Oktober 1985 zog Marita Koch im DDR-Trikot beim Weltcup im australischen Canberra einen Lauf an, an den man sich bis heute erinnert. Sie passierte das Ziel nach sagenhaften 47,60 Sekunden – ein Weltrekord, bis heute unerreicht.

Der Frau aus Wismar vom Sportclub Empor Rostock gelang an dem Abend ein Fabelrennen. Es unterschied sich freilich im wesentlichen nicht von vorangegangenen. »Jeder 400-Meter-Lauf war eine physische und auch psychische Herausforderung. Ich wusste schon immer, dass die letzten Meter unglaublich wehtun werden. Ich habe diese Strecke geliebt und gehasst«, berichtet die heute 68jährige gegenüber jW. Als sie knapp zwei Wochen vor dem Rekord in Australien angekommen war, hatte es keineswegs nach diesem Coup ausgesehen. Nach über 30 Stunden Flug war Marita Koch kurz nach der Landung bei einem Meeting in Sydney noch vollkommen außer Tritt. Zehn Tage später, ausgeruht und akklimatisiert, zahlte sich die spezielle Vorbereitung für den späten Abschluss der leichtathletischen Freiluftsaison aus. »Wir hatten für die Reise nach Australien nach einer längeren Regenerationsphase extra noch mal vier bis fünf Wochen so etwas wie einen zweiten Saisonaufbau im Kurzdurchlauf gemacht. Die Pause zuvor und der anschließende Neuaufbau haben mir richtig gutgetan.«

Am 4. Oktober war die Frau, die 1979 und 1984 jeweils in 21,71 Sekunden zweimal Weltrekord über 200 Meter lief, die »halbe Distanz« trainingshalber in 21,91 gesprintet. Da habe sie »schon mitbekommen, dass es über 400 Meter sehr schnell werden kann«. Es wurde ein »Lauf für die Geschichtsbücher«, der nach der politisch motivierten Nichtteilnahme der DDR-Athleten an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles auch etwas von einer verspäteten Frustreaktion hatte. Die selbstherrliche Entscheidung des SED-Politbüros hatte Marita Koch und alle anderen ostdeutschen Stars um ihre Medaillenchancen gebracht und die mit vielen Entbehrungen verbundene Olympiavorbereitung zunichte gemacht. Mit Folgen. Um ein Haar hätte Marita Koch sofort hingeschmissen. Sie besann sich aber, nachdem sie bei der »Ersatzolympiade« in Prag völlig demotiviert die 400 Meter in 48,16 Sekunden gelaufen war. »Nach dieser Enttäuschung wollten wir wenigstens 1985 ernten, was wir im Jahr davor gesät hatten. Außerdem sollte es nach Australien gehen. Das war das große Highlight am Horizont.«

Trotz wachsender Sorge um Verletzungen hatten sich die 1,70 Meter große Athletin und ihr langjähriger Trainer und späterer Ehemann Wolfgang Meier, der kürzlich verstarb, von DDR-Sportführer Manfred Ewald überreden lassen, bis zu Olympia 1988 im südkoreanischen Seoul durchzuhalten. Im Gegenzug versprach Ewald dem Erfolgsduo Koch/Meier, sie dürften in der kalten Jahreszeit in der Wärme trainieren, etwa auf Kuba oder in Mexiko. »Als wir ihn im Winter 86/87 an seine Zusage erinnerten, wollte er davon nichts mehr wissen. Statt dessen wurde mir im Training zugetragen, wie er sich über verdienstvolle Sportlerinnen und Sportler äußerte: ›Wenn Athleten alt und krank sind, dann müssen sie eben aufhören.‹ Als ich das hörte, habe ich sofort gedacht: Das kann er haben.«

Die begnadete Läuferin verließ Anfang 1987 die Bahn und zog ihre Spikes für immer aus. »Die Entscheidung war okay für mich, ich hatte noch keine Verletzungen, keine Operation und keine Narben. Ich bin verletzungsfrei da herausgegangen und mit guten Erinnerungen.« Nach dem Ende der DDR betrieb sie in der Rostocker Innenstadt ein Sport- und ein Modegeschäft. Inzwischen im Ruhestand, genießt sie ihre Zeit nahe der Hafenstadt an der Warnow in ländlich-beschaulicher Umgebung. Die große internationale Bühne betrat sie noch einmal im Jahr 2014, als sie vom Weltleichtathletikverband (IAAF) in seine »Hall of Fame« aufgenommen wurde – gemeinsam mit Weitsprungolympiasiegerin Heike Drechsler aus Jena. Damit wurden zwei ostdeutsche Ikonen ihrer Sportart geehrt, die inzwischen familiär miteinander verbandelt sind. Seit sechs Jahren ist Ulrike, die Tochter von Marita Koch und Wolfgang Meier, mit Heike Drechslers Sohn Tony verheiratet.

Insgesamt 16 Weltrekorde über 200 Meter, 400 Meter und in Staffeln stellte die fünfmalige »DDR-Sportlerin des Jahres« zwischen 1978 und 1985 auf. Auf diesen weitgespannten Zeitrahmen in der absoluten Weltklasse konnte sie verweisen, als man nach 1990 ihre Rekorde immer wieder mit Doping erklärte. Alle Anwürfe, um ihre Leistungen zu schmälern, wies sie stets konsequent zurück. Allein bei ihren Rennen in Australien und nach ihrem »Wunderlauf« von Canberra sei sie dreimal getestet worden. »Dabei war ich immer clean. Das gilt für meine ganze Karriere. Ich kam erst relativ spät zum Leistungssport, hatte eine Weile Medizin studiert und war eine sehr mündige Athletin. Ich wusste sehr genau, was ich mir selbst antun will und was nicht.«

Ihre Großtaten auf der Tartanbahn sind bis heute in sämtlichen Rekordlisten vermerkt. Sehr zu Recht, wie Marie-José Pérec befand. Im Vorfeld der Sommerspiele von Sydney hatte sich die Olympiasiegerin über 400 Meter von 1992 in Barcelona und 1996 in Atlanta für einige Zeit in die Hände von Wolfgang Meier ins »Kochodrom« begeben – eine 283-Meter-Bahn, zwischen kahlen Betonwänden und mit reichlich Zeitmessvorrichtungen versehen. Die Französin erlebte hier seit September 1999, wie methodisch ausgeklügelt und knüppelhart trainiert wird. Sie habe beim weltbesten Trainer für diese Disziplin zweimal täglich geschuftet wie nie zuvor, erklärte sie später. Dabei nahm sie Lasten auf sich, die sie vordem als Zumutung zurückgewiesen hatte. Nach diesem Erlebnis habe sie begriffen, weshalb Wolfgang Meier lachte, nachdem sie ihm einmal berichtet hatte, wie ihr Trainingsalltag vorher ausgesehen habe. Nach der Schinderei in Rostock war sie »vollkommen sicher«, so Pérec, dass es möglich sei, einen solchen Weltrekord ganz sauber zu laufen – und ihn ohne Doping womöglich sogar noch zu unterbieten.

Wie zum Beweis wäre es beim WM-Sieg von Sydney McLaughlin-Levrone am 18. September in Tokio fast so weit gewesen. Die US-Amerikanerin siegte in 47,78 Sekunden. »Wenn sie einen neuen Weltrekord aufgestellt hätte, wäre ich gar nicht überrascht gewesen. Ich hatte sogar damit gerechnet. Sie hat sich das vorgenommen und das Zeug dazu«, so Marita Koch zu jW. »Ehrlich gesagt, freut mich das sogar. Weil es zeigt, dass Frauen in der Lage sind, in diesem Bereich zu laufen.« Was ebenfalls für Marileidy Paulino aus der Dominikanischen Republik gilt, die in Tokio über die Stadionrunde in 47,98 Sekunden zu WM-Silber rannte.

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