»Seit 26 Jahren läuft der Prozess«
Interview: Gitta Düperthal
Eine internationale Delegation wird am 21. Oktober in die Türkei reisen, um Pınar Selek zu unterstützen. Der Antimilitaristin, Feministin, Schriftstellerin und Soziologieprofessorin wird vorgeworfen, 1998 an einem angeblichen Bombenattentat auf einen Gewürzmarkt in Istanbul beteiligt gewesen zu sein. Was erwarten Sie von diesem fünften Prozess?
Seit 26 Jahren läuft der Prozess. Und in der Tat: Die Prozessakte ist im Grunde genommen völlig leer. Das angeblich durch die PKK verübte Attentat, das Pınar Selek in die Schuhe geschoben wurde, hat sich als ein Unfall durch eine Explosion einer kaputten Gasflasche herausgestellt, der den Tod von sieben Menschen verursachte. Wir erwarten einen Freispruch.
Nach der öffentlichen Waffenvernichtung durch PKK-Kämpferinnen am 11. Juli wird gemutmaßt, ein Friedensprozess könne folgen. Könnte das einen positiven Einfluss auf das Verfahren haben?
Wir haben keinerlei Hinweise, wie das türkische Regime künftig mit den politischen Oppositionellen umgehen will. Alles bleibt vage und unzuverlässig. Im Gegenteil: Es setzt seine Politik der Repression und Verhaftungen fort. In Pınars Fall wurde seit 27 Jahren die Verfolgung nicht eingestellt.
Laut Medienberichten will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf eine dritte, verfassungswidrige Amtszeit hinwirken, wäre dann auf Stimmen kurdischer Abgeordneter angewiesen. Könnte sich das auf den Prozess auswirken?
Bisher gibt es kein zuverlässiges Anzeichen dafür, dass es Zugeständnisse geben soll; weder eine Appeasementpolitik für die Kurdinnen und Kurden noch dass die Justiz etwa politische Oppositionelle nicht mehr einsperren ließe. Wir hoffen sehr, dass am 21. Oktober die letzte Verhandlung gegen Pınar sein wird. Nichts schriftlich Fixiertes weist aber darauf hin.
Hat sich im Prozess nichts geändert?
Bei der letzten Verhandlung am 25. April gab es eine positive Neuigkeit: Interpol lehnte mit offiziellem Schreiben das Ersuchen der Türkei um eine »Red Notice« gegen Pınar Selek ab, will die Strafverfolgungsbehörden weltweit also nicht mehr auf sie ansetzen. Das Gericht aber ordnete an, weiterhin das Ergebnis des Antrags auf eine »Red Notice« abzuwarten. Offenbar will man aber abwarten, bis Pınar, die in Frankreich lebt, am Prozess in Istanbul teilnimmt, um zu einer Entscheidung zu kommen. Klar ist, dass sie in dem Fall aber dort festgenommen werden würde. Die Türkei hat viele Oppositionelle aus Willkür eingesperrt.
Erdoğan hat bereits dafür gesorgt, dass Oppositionspolitiker ihm nicht gefährlich werden können, wie etwa der 2016 inhaftierte Selahattin Demirtaş der HDP oder der im März festgenommene Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, möglicher Gegenkandidat der CHP.
Dieses autoritäre Regime macht, was es will. Man verschiebt Pınar Seleks Prozess ständig wieder, um unsere Delegationen zu zermürben. Wir werden international weiter mobilisieren; denken dabei auch an alle anderen, die in Gefängnissen sitzen, ohne dass Menschenrechte respektiert werden.
Pınar Selek lehrt Soziologie an der Universität von Nizza. Wie bereitet sich die französische Solidaritätsbewegung darauf vor, sie zu unterstützen?
Wir bereiten eine Kampagne mit Menschenrechtsaktivisten, Feministinnen, Abgeordneten, Anwältinnen und dem universitären Umfeld vor. Am 21. Oktober, dem Tag ihres Prozesses in Istanbul, wird die Schauspielerin Ariane Ascaride um 18 Uhr in der Hauptbibliothek von Marseille, der Bibliothèque de l’Alcazar, Texte von Pınar Selek lesen. Mit einer Petition im Internet sammeln wir Spenden für die finanzielle Unterstützung der internationalen Delegationen, die nach Istanbul reisen, um die Gerichtsverhandlungen dort zu beobachten.
Yves Doazan ist aktiv in der »Koordination der Komitees für Solidarität mit Pınar Selek« und der Liga für Menschenrechte
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