Farage verhindern
Von Dieter Reinisch
Die Euphorie ist schon lange verflogen: Großbritanniens Premierminister Keir Starmer hat bei der aktuell laufenden Parteikonferenz von Labour mit vielen Problemen zu kämpfen. Diese kommen zunehmend aus der Partei selbst und haben nicht nur mit dem Umfragehoch der rechten Reform UK und den Protesten auf der Straße zu tun. Wie bei jedem Parteitag versammelten sich bei Konferenzbeginn zahlreiche Demonstranten vor dem Eingang, um gegen die Labour-Politik zu protestieren. Am Sonntag protestierten mehrere tausend vor dem Veranstaltungsort in Liverpool gegen die Terroreinstufung der antimilitaristischen Gruppe »Palestine Action« vor wenigen Monaten, es gab 66 Verhaftungen.
»Britannien erneuern« lautet der Slogan in diesem Jahr. Erst knapp vor dem Parteitag war die Suspendierung mehrerer linker Labour-Parlamentarier aufgehoben worden, die sich im vergangenen Jahr gegen eine Begrenzung des Kindergelds ausgesprochen hatten. Doch im Saal kam bisher wenig Euphorie auf, die hinteren Tribünen blieben leer. Delegierte mussten sich gegenüber Medienfragen verteidigen, wieso die versprochenen Reformen nicht oder zu langsam kommen.
Starmer griff in seinen Eröffnungsworten Reform UK an. Die nach wie vor als private Kapitalgesellschaft geführte Partei von Nigel Farage liegt in den Umfragen seit Monaten vorn. Labour und die Regierung müssten daher bis zur nächsten Wahl alles dem »Kampf gegen Reform UK« unterordnen. Es sei der »Kampf seines Lebens«, betonte Starmer; die Pläne der Partei seien rassistisch, unproduktiv und unmoralisch. Es liege an seiner Regierung, Farage als nächsten Premierminister Großbritanniens zu verhindern. Mitte September hatten bei einer vom Neonazi Tommy Robinson organisierten Großdemo in London bis zu 150.000 Menschen teilgenommen. Inhaltlich setzt Labour auf Entgegenkommen: Innenministerin Shabana Mahmood stellte am Montag Pläne für eine verschärfte Migrationspolitik vor. Demnach müssen Migranten für ein dauerhaftes Bleiberecht einen Arbeitsplatz nachweisen und sich ehrenamtlich engagieren sowie keine staatlichen Leistungen beantragen.
Um den Unmut in der Bevölkerung abzumildern, verspricht Labour darüber hinaus ambitionierte Projekte – wie schon im Wahlkampf, der zum deutlichen Sieg bei der Parlamentswahl im Juli 2024 geführt hatte. Eines der größten Probleme ist die Wohnungsnot. Am Sonntag wurde angekündigt, dass zwölf neue Städte für jeweils mehrere zehntausend Menschen errichtet werden sollen. Fertiggestellt werden sollen sie bereits »vor den nächsten Wahlen«, versprach Wohnbauminister Matthew Pennycook gegenüber BBC. Dadurch könnten die 1,5 Millionen fehlenden Wohneinheiten ausgeglichen werden, betonte er. Man wolle »den Geist der Nachkriegsregierungen« wieder erwecken, hieß es. Damals setzte eine Labour-Regierung progressive Sozialreformen um, führte das öffentliche Gesundheitssystem NHS ein und verstaatlichte Industrie und öffentlichen Verkehr.
Doch die große Frage, die den Parteitag bestimmt, ist die Nachfolge von Angela Rayner als Stellvertreterin von Starmer. Sie trat am 5. September zurück, nachdem sie bei einem Immobiliengeschäft nicht ausreichend Steuern beglichen hatte. Für viele in der Partei galt sie als letzte Verbindung zwischen der Starmer-Regierung und der geschrumpften Parteilinken.
Die Wahl zur Nachfolge findet erst im Oktober statt, doch zum Parteitag schloss die Nominierungsfrist. Zwei Kandidatinnen stehen zur Wahl: Bridget Phillipson und Lucy Powell. Beide starten mit Gegenwind in den Wahlkampf: Keine von beiden repräsentiert den notwendigen Wandel innerhalb von Labour, schrieb die mächtige Unite-Gewerkschaft vor dem Parteitag. »Großbritannien braucht Veränderung, nicht mehr vom Alten. Arbeiter verlassen Labour in Scharen, und Herumdoktern wird die Flut nicht eindämmen. Leider bietet diese Wahl nicht die Alternative, die Großbritannien braucht«, so Generalsekretärin Sharon Graham. Von der Regierung fordert sie »massive Investitionen in unsere marode Infrastruktur und unsere öffentlichen Dienstleistungen, eine Lohnerhöhung für Arbeiter und ein Ende der privaten Profitgier, die die Inflation antreibt«. Am Sonntag wurde Graham auf Sky News noch deutlicher und drohte an, ihre Gewerkschaft würde die formelle Bindung mit Labour endgültig beenden. Im Juli hatte Unite beschlossen, ihr Verhältnis zur Partei »zu überprüfen«. Grund ist der seit Beginn des Jahres andauernde Arbeitskampf der Müllentsorgung in Birmingham gegen die dortige Labour-Stadtregierung.
Doch nicht nur die Gewerkschaften sind unzufrieden: 53 Prozent der Labour-Mitglieder wünschen sich bis zu den nächsten Wahlen im Frühjahr 2029 einen neuen Parteichef, wie eine im Auftrag der Plattform »Labour List« durchgeführte Befragung ergab, die am Sonntag veröffentlicht wurde. Nur 31 Prozent wollen Starmer weiterhin im Amt haben. Am meisten enttäuscht sind jene, die ihn 2020 bei der Wahl zum Parteivorsitzenden unterstützt haben: Von ihnen stehen nur noch 43 Prozent hinter Starmer. Statt über dessen Stellvertreterin zu diskutieren, könnte der Parteitag sein eigenes Nachfolgekarussell einläuten. Noch bis Mittwoch werden die Delegierten in Liverpool die zukünftige Ausrichtung von Labour debattieren. An diesem Dienstag wird Starmer seine Parteitagsrede halten. Die kommenden Wochen werden entscheiden, ob es seine letzte sein wird.
Hintergrund: Im freien Fall
Aus den Umfragen der vergangenen Monate kann nur ein Schluss gezogen werden: Die Labour-Regierung ist in einer tiefen Krise. Am Sonntag schrieb Sky News: »Nach derzeitigem Stand ist ein Sieg von Nigel Farage bei den nächsten Wahlen sehr wahrscheinlich«, er sei auf dem Weg, der nächste Premierminister zu werden.
Was die Stimmenanteile betrifft, hat Reform UK in einer Umfrage von Yougov, die am Freitag veröffentlicht wurde, im Vergleich zum Juni einen Punkt auf 27 Prozent der Stimmen zugelegt. An zweiter Stelle folgt Labour mit zwei Prozentpunkten Verlust und nunmehr 21 Prozent, die Konservativen verlieren einen Punkt und kommen auf 17 Prozent. Dahinter folgen die Liberaldemokraten mit 15 und die Grünen mit elf Prozent. Würde aktuell gewählt werden, käme es wohl zu einem Patt im Parlament, bei dem Reform UK 311 der 650 Sitze gewinnen würde, 15 Sitze weniger als die formale Gewinnlinie von 326. Dabei muss bedacht werden, dass die republikanische Sinn Féin (SF) ihre Sitze in Westminster traditionell nicht einnimmt, auch jener des Parlamentssprechers muss abgezogen werden. Derzeit hält SF sieben Sitze.
Labour würde nach derzeitigem Stand unter 100 Sitze fallen und damit ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1931 einfahren. Im Grunde würden die meisten Sitze der Konservativen und von Labour an Reform gehen. Im Südwesten können sich die Liberaldemokraten, genauso wie im Westen von Wales die dortigen Nationalisten, halten. In Schottland würde die National Party wieder flächendeckend von Labour zurückgewinnen.
Noch schlechter sind die persönlichen Umfrageergebnisse für Parteichef Keir Starmer: Laut einer Ipsos-Umfrage von Mitte September sind nur 13 Prozent der Briten mit seiner Regierungsarbeit zufrieden. Damit liegt er sogar unter jenen Werten von Liz Truss und ist damit der unbeliebteste Regierungschef in der Geschichte Großbritanniens. (dr)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Limassol (30. September 2025 um 10:52 Uhr)Abgesehen davon, dass es gar nicht so einfach ist, »zwölf neue Städte mit mehreren zehntausend Einwohnern« zu bauen und ziemlich lange dauern könnte, ist auch der Rest dieses Zuckerstückchens für die kochende Volksseele erkennbar nur heiße Luft. Es entstünden dann rund 150 000 neue Wohnungen. Wie damit ein Fehlbestand von 1,5 Millionen ausgeglichen werden soll, bleibt ein Parteitagsrätsel von Labour. Bezahlen können die Briten nicht einmal diesen Klacks, wenn sie weiter vorrangig auf einen Krieg gegen Russland setzen. Absehbar braucht es dann überhaupt keine Wohnungen mehr im Lande. Ein paar Höhlen täten es dann wohl auch.
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