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Aus: Ausgabe vom 25.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Fotografie

Die Seele der Motte

Die »Nachtschwärmer« von Bernhard Schurian locken in die Galerie Gesellschaft in Berlin
Von Gisela Sonnenburg
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Jedes Tier hat eine Seele, und die ist gefräßig

Das Tier ist hier Trumpf. Mit den »Nachtschwärmern« von Bernhard Schurian ist kein menschliches Partyvolk gemeint. Obwohl es an den Wochenenden in Scharen vor der Galerie Gesellschaft in Berlin-Mitte hin- und herflaniert. Aber die Stars in der liebevoll-gediegenen Galerie sind überraschenderweise nachtaktive Motten aus dem Regenwald.

Auf schwarzem Grund flattern sie zart und bildschön: Schurian stellte sich mit dem Stativ nächtelang in Vietnam auf die Lauer, um solche Bilder einzufangen. Man sieht scheinbar viele Tiere, doch es ist oft nur eine Motte pro Flugbahn. Schnurgerade oder auch in harmonischen Bögen flog das Getier durch den finsteren Wald. Lebende Ketten scheinen sich da zu bilden, ätherisch und ästhetisch. Motten sind Tänzerinnen der Lüfte, bereichern die Dunkelheit mit ihrem Fluidum. Gelb, lila, silberbraun – geheimnisvoll leuchten die Flügel der feingliedrigen Tierchen. Sie gleichen vor der Kamera prächtigen Schmetterlingen oder auch exotischen Flugobjekten, vielleicht sollte man sie am besten »Flugsubjekte« nennen.

Denn jedes Tier hat eine Seele. Die zeigt sich, wenn es sich bewegt. Und für naturkundliche Sammlungen werden Insekten mit ausgebreiteten Flügeln aufgenadelt. In der Natur aber legen sie ihre Fluggeräte eng an den Körper an, wenn sie Kraft schöpfen oder sich zur letzten Ruhe betten. Um ein Exemplar der Spezies »Eumorpha achemon« (»Sphinx-Motte«) von nahem zu betrachten, nahm sich der Fotograf ein totes Tier vor. Der Kopf, wie Leib und Flügel von rosabraunem Haar wie von einem Fell überzogen, wirkt gedrungen. Der Rüssel ragt keck aus dem scheidenförmigen Maul. Goldgrün glänzen rechts und links die Facettenaugen, die zu Lebzeiten so ganz anders sahen, als Menschenaugen es tun. Motten sehen nämlich vor allem bei kurzwelligem Blaulicht gut.

Und keine Reflexe verraten nachts ihre Existenz, wenn Motten durch den Dschungel schweben. Denn Mottenaugen sind ein Musterbeispiel für Mikroarchitektur. Unterm Elektronenmikroskop erkennt man, dass sie winzige säulenartige Ausstülpungen auf den einzelnen Facetten tragen. So werden Spiegelreflexe verhindert. Es gibt eine Doktorarbeit darüber. Denn die Wirtschaft will den Mechanismus mit Nanotechnik nutzen, um reflexloses Glas herzustellen.

Dabei dienen die Insekten uns sowieso schon übermäßig. Sie bilden, indem sie bestäuben, die Grundlage unserer Nahrungskette. Sie sind Futter für all die Vögel, die unser Herz erfreuen. Sie fliegen seit 400 Millionen Jahren. Ob der Mensch das mit Flugzeugen wohl auch schaffen wird? Windräder hingegen vernichten Insekten milliardenfach, auch Pestizide sowie die Versiegelung der Böden nehmen ihnen die Chancen zum Überleben. Ein Viertel aller Insektenarten wird in 27 Jahren ausgestorben sein, besagt eine Studie.

Solche News verleihen Schurians Motten einen Status: Sie sind Kunst gewordene Biodiversität. Wie ein Mahnmal wird denn auch unter einer Glashaube eine »Sphinx-Motte« – eine Leihgabe des Naturkundemuseums Berlin – ausgestellt. Sie ist die Säulenheilige dieser Ausstellung, passt auf, dass der so oft übersehenen oder wegen Klamottenfraß verunglimpften Motte Respekt gezollt wird.

Andreas Wessel, der Kurator, erklärt im Katalog, dass die Versuche, tierische Bewegungen bildnerisch einzufangen, bis ins Jahr 1878 zurückreichen. Schurian arbeitete zudem nicht allein mit den Flugsubjekten, sondern folgte Insektenforschern auf eine Expedition. Seine Ergebnisse verschmelzen Kunst und Wissenschaft vorbildlich.

»Nachtschwärmer« – Fotografien von Bernhard Schurian, Galerie Gesellschaft, Auguststraße 83, 10117 Berlin, bis 10. Oktober 2025

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