Entfesselte Gewalt
Von Bartek Arasimowic
Am 30. September 1895 marschierten in Istanbul Hunderte Armenier unter der Führung der armenisch-nationalistischen Partei Huntschak zur Hohen Pforte, um der osmanischen Regierung eine Petition zu überreichen, die die Umsetzung versprochener Reformen für die rechtliche Gleichstellung der Armenier forderte. Auch wenn diese Aktion als gewaltlos geplant war, hatten sich einige Demonstranten mit Schusswaffen und Messern bewaffnet. Als Gendarmen und Soldaten den Protestzug einige hundert Meter vor der Hohen Pforte aufzuhalten suchten, eskalierte die Situation. Zwar sollen die ersten Schüsse von den Protestierern ausgegangen sein, allerdings erlangten die Repressionsorgane rasch die Kontrolle und begannen – unterstützt von sogenannten Softas (Islamschülern) – die Jagd nicht nur auf diese Menge, sondern vor allem auf unbeteiligte Armenier in anderen Stadtvierteln Istanbuls. Auch die Zahl der beteiligten Angreifer erweiterte sich: Kurdische Lastenträger und Arbeiter schlossen sich an, um armenische Saisonarbeiter aus den Provinzen zu überfallen. Als die Übergriffe am nächsten Tag fortgesetzt wurden, retteten sich circa 2.000 Armenier nur dadurch, dass sie sich in nahegelegene Kirchen flüchteten, die von Polizeikräften belagert wurden. Hunderte Armenier wurden festgenommen, bis zu 200 getötet.
Rückblickend bildete das Blutbad von Istanbul den Beginn einer Welle von Pogromen gegen die christlich-armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich. Insbesondere in der Osthälfte Anatoliens – von Kayseri bis Van, von Trabzon bis Urfa – wurden bis Ende 1895 Tausende Armenier getötet. Im Zuge der Ausplünderung armenischer Geschäfte, Häuser, Stadtviertel oder Dörfer verloren unzählige armenische Familien ihr Hab und Gut. Je nach örtlichen und demographischen Gegebenheiten variierte die ethnische Zusammensetzung der Tätergruppe(n), ebenso das Ausmaß staatlicher Beteiligung. In der ersten Hälfte des Jahres 1896 kämpften die Überlebenden dieser Regionen um ihre nackte Existenz – viele von ihnen vergebens, denn sie starben infolgedessen an Hunger, Kälte oder Krankheiten. Tausende wurden gewaltsam zum Islam konvertiert. Nach neuesten Erkenntnissen wird die Zahl der getöteten Armenier zwischen 33.000 und 74.000 geschätzt.
Vorwurf der Kollaboration
Was waren die Hintergründe für die antiarmenische Massengewalt? Knapp zwanzig Jahre zuvor, im Jahr 1878, hatte das Osmanische Reich nach dem verlorenen Krieg gegen Russland schmerzhafte Gebietsverluste erleiden müssen. Von seiner Herrschaftssphäre auf dem Balkan musste es auf Serbien, Montenegro, Rumänien und große Teile Bulgariens verzichten, ferner musste es die an den Kaukasus angrenzenden Regionen an Russland abtreten und nicht zuletzt die Kontrolle über Ägypten und das seit jeher strategisch gelegene Zypern an Großbritannien abtreten. Insgesamt verlor das Osmanische Reich zwei Fünftel seines Territoriums und ein Fünftel seiner Bevölkerung. Bereits in den 1820er Jahren hatte sich Griechenland vom Osmanischen Reich gelöst. Dies beflügelte fortan die Sezessionsbestrebungen anderer nationaler Minderheiten.
Die Kolonialmächte Frankreich, England und Russland betrachteten das Osmanische Reich allein aufgrund seiner geostrategischen Lage als Zielobjekt für Intervention, denn es bot den Zugang zu vier Meeren, drei Kontinenten und somit die Kontrolle über wichtige Handelsrouten. Um den nach dem Krieg gewachsenen Einfluss des Rivalen Russland einzudämmen, organisierten die westlichen Großmächte 1878 eine Konferenz in Berlin, wo sie ihren eigenen Zugriff auf das Osmanische Reich vertraglich abzusichern suchten. In die Berliner Verträge flossen Klauseln ein, die den Schutz der anatolischen Armenier und ihre Beteiligung an der Verwaltung in den »sechs armenischen Provinzen« – Diyarbakır, Bitlis, Mamuretül-Aziz, Van, Sivas und Erzurum – einforderten. Diese Gebiete waren zwar historisch ein Kerngebiet der armenischen Bevölkerung, sie stellte jedoch in keiner dieser Provinzen die Mehrheit.
Die Großmächte, allen voran England und Russland, gerierten sich dabei als Garanten für die Durchführung der Verträge und erzwangen für sich Sonderrechte, wodurch christliche Gemeinden sich bei ungerechter Behandlung an eine der Großmächte wenden konnten. Auf diese Weise ist es nicht verwunderlich, dass aus osmanischer Sicht die Armenier, die bis dahin als besonders treue osmanische Klientel galten, der Kollaboration mit den Großmächten bezichtigt wurden. Hinzu kommt noch, dass die Armenier mit den aufständischen christlichen Bevölkerungsteilen auf dem Balkan gleichgesetzt wurden: Diese hatten – unter Federführung Russlands – einen sezessionistischen Kampf gegen Istanbul geführt und gewonnen – und dabei die dortige muslimische Bevölkerung brutal verfolgt. Circa drei Millionen Balkanmuslime waren daraufhin gezwungen, nach Anatolien zu migrieren, und womöglich hatten viele von ihnen die Verfolgung durch die Balkanchristen nicht vergessen. Nun wurde die Rolle der Balkanchristen auf die anatolischen Armenier projiziert, und der Abfall eines Teils des osmanischen Kernlandes Anatolien war eine rote Linie für Istanbul.
Zu dieser internationalen Dimension kam die besondere Verfasstheit des Osmanischen Reiches hinzu. Dieses steckte bereits seit einigen Jahren in einer zunehmenden politischen und ökonomischen Krise und war daher bemüht, sich innenpolitisch zu konsolidieren. Dabei setzte es unter anderem auf die Durchsetzung der muslimischen Vorherrschaft, was auch die ideologische Mobilisierung der islamischen Bevölkerungsteile bedeutete. Freilich bedeutete dies einen Antagonismus gegen die osmanischen Christen.
Aufgrund dessen und in Orientierung an dem aufkommenden Nationalismus in Europa gründeten sich in den 1880er Jahren drei armenische Parteien mit dem Ziel, die von Armeniern dicht besiedelten Gebiete, wenn schon nicht vom Osmanischen Reich zu trennen, so doch in eine Form von Autonomie zu überführen. Die Parteien Daschnakzutjun, Huntchak und Armenakan wurden von allen Beteiligten zwar als revolutionär betitelt, hinter ihren Programmen steckte jedoch nie mehr als eine militante Sozialdemokratie – übrigens gepaart mit dem ausgeprägt naiven Kalkül, die christlichen Großmächte würden im Falle von Bedrängnis ihrer vertraglich festgehaltenen Verpflichtung nachkommen und zum Schutz der Armenier intervenieren (oder zumindest auf diese als Stellvertreter nicht verzichten wollen).
»Mit Schwertern zerhackt«
Auch wenn die genannten Parteien in der armenischen Bevölkerung relativ schwach verankert waren, evozierte allein ihre Existenz bei der Osmanischen Regierung und ihrer sozialen Basis den Argwohn gegenüber den Armeniern, der rasch in Gewalt umschlagen konnte. Als sich beispielsweise im August 1894 in der Region Sasun (Distrikt Maraş) einige armenische Dörfer militant gegen die Doppelbesteuerung durch die Regierung und kurdische »Chiefs« wehrten, wurde dies durch letztere als Rebellion behandelt. Die Antwort war ein Massaker an Tausenden armenischen Dorfbewohnern dieser Region.
Vor diesem Hintergrund spielten sich die Ereignisse in Istanbul ab. Nur einige Tage später kam es in Trabzon zu einem durch militante Armenier verursachten Zwischenfall, woraufhin muslimische Anführer Teile der Landbevölkerung in die Stadt mobilisierten und sie mit Schuss- und Stichwaffen ausrüsteten. Eine Schießerei zwischen Armeniern und osmanischen Sicherheitskräften im Stadtzentrum drei Tage später bildete für Hunderte muslimische Angreifer den Anlass, loszuschlagen. Der Bericht eines Augenzeugen schildert die Ereignisse wie folgt: »Männer, die ruhig vor ihren Ladentüren standen oder saßen, wurden sofort mit einer Kugel durch den Kopf oder das Herz niedergestreckt. (…) Einige wurden mit Schwertern zerhackt, bis sie tot waren. Sie durchquerten Viertel, in denen nur noch alte Männer, Frauen oder Kinder lebten, töteten die Männer und großen Jungen und ließen die Frauen und jüngeren Kinder in der Regel am Leben. Fünf Stunden lang dauerte dieses grausame Werk unmenschlicher Schlachtung an, das Knallen der Musketen, manchmal wie eine Salve eines Soldatenzuges, aber häufiger einzelne Schüsse aus nahen und fernen Entfernungen, das Einbrechen von Türen und das dumpfe Geräusch von Schwertschlägen drangen an unsere Ohren (…), und dann begann die Plünderung. Jeder Laden eines Armeniers auf dem Markt wurde geplündert, und die Sieger dieses feigen und brutalen Krieges labten sich an der Beute. Stundenlang wurden Ballen mit Stoffen, Baumwollwaren und allen erdenklichen Arten von Handelswaren ohne Belästigung der Häuser der Plünderer vorbeigetragen.« Da sich laut dem britischen Konsul Tausende Armenier auf das Gelände der ausländischen Konsulate und in bewachte Regierungseinrichtungen flüchten konnten, sind bei diesem Pogrom »nur« 182 Armenier und elf Muslime getötet worden.
Nur eine Woche später überfielen Lazen aus der Gegend um Rize und Of gemeinsam mit anderen lokalen Muslimen einige armenische Dörfer um Baiburt herum, ein Ort, der an der viel frequentierten Route zwischen Trabzon und Erzurum liegt. Möglicherweise blieben diese gewaltsamen Ereignisse trotz der aufgeheizten Atmosphäre lokal beschränkt und wären nicht in dem Ausmaß eskaliert. Doch am 17. Oktober befeuerte Sultan Abdülhamid II. die Entwicklung, indem er die Umsetzung der zugestandenen Reformen zugunsten der Armenier ankündigte. Erschwerend kam hinzu, dass dies per Rundschreiben an die »Valis« (Provinzpräsidenten) der »sechs armenischen Provinzen« erfolgte, anstatt das versprochene Reformvorhaben ordnungsgemäß zu promulgieren und den Erlass mit bindenden Ordern zu flankieren.
Auf diese Weise blieb die Interpretation dieses Reformvorhabens den regionalen Machthabern selbst überlassen, ebenso welche Maßnahmen sie diesbezüglich ergreifen würden. Dabei muss der Status Ostanatoliens als Peripherie berücksichtigt werden: Die Untergebenen des Sultans waren von der Kontrolle der Zentralregierung weit genug entfernt, um eine von ihr unabhängige politische Agenda praktizieren zu können. Schließlich waren sie diejenigen, die auf die Kooperation mit einflussreichen Muslimen ihrer Provinzstädte sowie den ruralen und tribalen Führern angewiesen waren, die sich entweder selbst als Vertreter der Staatsmacht oder als die eigentlichen Hüter muslimischer Interessen sahen. Die partikularen politischen und sozioökonomischen Interessen führten hingegen unter der Streuung von Gerüchten zur Aufwiegelung muslimischer Gruppen gegen die Armenier. So wurden diese in Hunderten ihrer Wohnsitze von aufgebrachten Mobs überfallen, getötet und ausgeplündert.
Gut dokumentiert
Diese Pogrome sind seinerzeit gut dokumentiert worden. Armenische Geistliche sammelten in ihren Kirchenprovinzen Informationen und schickten sie weiter an das Patriarchat in Istanbul. Ebenso bemühten sich die in den Provinzen stationierten ausländischen Konsuln, ihre Vorgesetzten mit Nachrichten zu versorgen, die im Anschluss an die Außenministerien gingen. Auch die vielen nichtosmanischen Missionare produzierten unzählige Berichte über die antiarmenische Massengewalt, die anfangs an ihre Zentralen gingen und kurz darauf zwecks Organisation von Nothilfe und zur Verbreitung dieser Nachrichten auch an Politiker, Zeitungsredaktionen und andere Institutionen adressiert wurden. Die osmanischen Quellen hingegen waren seinerzeit nur Weisungsbefugten zugänglich und müssen auch heute noch für ihr Verständnis erst entwirrt werden: Die Regierungsbeamten beschrieben die Ereignisse oftmals verklausuliert, indem sie sich zweideutiger, getarnter und euphemistischer Sprache bedienten, um die Massengewalt quasi zu neutralisieren und die Täterschaft der Angreifer zu verschleiern.
Diese Berichte basierten entweder auf Aussagen von Augenzeugen oder auf Beschreibungen von Zeugen vom Hörensagen. Auch heute noch lesen sich diese Erzählungen eindringlich. Für Empörung und Aufschrei in der europäischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit sorgten damals insbesondere die szenischen Darstellungen von Gewalt. Über die Ereignisse in Erzurum las man beispielsweise folgendes: »Der Mann wurde dann ausgezogen, ein Stück Fleisch aus seinem Körper herausgeschnitten und scherzhaft zum Verkauf angeboten: ›Gutes frisches Fleisch, spottbillig!‹ riefen einige aus der Menge. ›Wer kauft gutes Hundefleisch?‹ wiederholten die amüsierten Umstehenden. Der sich windende Unglückliche stieß durchdringende Schreie aus, als einige aus der Menge eine Flasche öffneten und Essig oder eine andere Säure in die klaffende Wunde gossen. (…) Bald darauf kamen zwei kleine Jungen hinzu, der Ältere schrie: ›Vater, Vater, rette mich! Sieh, was sie mir angetan haben!‹ und zeigte auf seinen Kopf, von dem das Blut über sein hübsches Gesicht und seinen Hals hinunterfloss. (…) Der blutende Junge wurde schließlich mit Gewalt gegen den sterbenden Vater geschleudert, der langsam seine Kraft und sein Bewusstsein verlor, und beide wurden dann an Ort und Stelle zu Tode geprügelt.«
Die zeitgenössischen Publikationen über die Massaker waren voll von solcherlei Schilderungen, die der Historiker Stefan Ihrig treffend als »pornography of atrocity« (Grausamkeitspornographie) bezeichnet. Bei der Charakterisierung der Täter im besonderen und der Muslime im allgemeinen fehlten indes nicht Kommentare, die auf antimuslimischen Stereotypen basierten und diese als fanatisch, grausam, blutrünstig, kurzum als Barbaren darstellten – ein Verfahren übrigens, das bis heute angewendet wird.
Sachlicher und informierender – aber letztendlich nicht weniger dramatisch – waren die Berichte der US-amerikanischen Missionare des American Board, die maßgeblich zur Information der westlichen Gesellschaften beitrugen. Diese Gruppe bestand zur gegebenen Zeit aus 150 Männern und Frauen, die großenteils seit Jahrzehnten in Anatolien stationiert waren, türkisch und/oder armenisch sprachen, über sehr gute Ortskenntnisse verfügten und sowohl in der armenischen Bevölkerung verankert waren als auch über hervorragende Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten in ihrem Einsatzgebiet und darüber hinaus verfügten. Ihre Hauptaufgabe bestand zwar erklärtermaßen darin, den »Orient« auf die nah geglaubte Ankunft Jesu vorzubereiten, jedoch verbrauchten sie neben der klassischen Missionarsarbeit enorme Ressourcen für die schulische und akademische Ausbildung der lokalen – insbesondere der armenischen – Bevölkerung. Die damals circa 60.000 Mitglieder zählende protestantische Gemeinde wurde maßgeblich durch diese Missionare aufgebaut und informell gestützt. So verfügten sie über eine Infrastruktur, die es ermöglichte, die Pogrome und ihre Auswirkungen relativ zuverlässig zu dokumentieren und die Informationen zu verbreiten.
Zum Zeitpunkt der Massaker bot diese Infrastruktur für zahlreiche Armenier die einzige Chance, medizinisch versorgt zu werden oder wenigstens eine Zuflucht zu finden. Noch während die Angreifer die armenische Bevölkerung attackierten, nahmen die Missionare so viele Hilfesuchende auf wie nur möglich und machten sich an ihre Versorgung. In Antep beschrieb eine Missionarin die Lage in dem von ihr geleiteten Krankenhaus so: »Die meisten Wunden waren mit Äxten oder großen Messern verursacht worden, und neben starken Männern waren auch kleine Kinder, Frauen und alte Männer angegriffen worden. (…) Mit einem zertrümmerten Bein, fast abgetrennten Händen und Armen, aufgerissenen Köpfen und einer schrecklichen Bauchwunde sowie einem Dutzend kleinerer Verletzungen stellte sich die Frage, wo man anfangen sollte. (…) Die Betten waren bald voll, die Patienten waren froh, auf Matratzen auf dem Boden liegen zu können; diejenigen, denen es etwas besser ging, legten sich auf alte Kissen nieder, die wir finden konnten. Einige fanden sogar in unserem Operationssaal Unterkunft, während einige arme Geschöpfe auf dem Boden im Behandlungsraum lagen und darum baten, nicht weggeschickt zu werden. Wir wurden jeden Tag von denen belagert, die gerne hier Zuflucht gefunden hätten, aber wir sind so überfüllt, dass wir uns kaum umdrehen können.«
Sobald die Situation es zuließ, machten sich die US-amerikanischen Missionare an die Beschaffung von Informationen über die durch die Massaker verursachten menschlichen und materiellen Verluste. Tausende Armenier hatten von einem Tag auf den anderen alles verloren. Neben den fürs alltägliche Überleben notwendigen Nahrungsmitteln mussten Kleider, Bettdecken und Kochgeschirr besorgt, Türen, Fenster und Dachsparren ersetzt sowie Saatgut, Vieh und Geräte für die landwirtschaftliche Arbeit bereitgestellt werden. Die finanziellen Mittel dafür lieferte das eigens dafür in den USA ins Leben gerufene National Relief Committee, das unter den US-amerikanischen Christen eine Spendenkampagne startete. Nicht etwa die Armut zu beheben, wurde als Ziel ausgerufen, sondern schlicht, die Leute am Leben zu halten. Innerhalb weniger Wochen wurde eine Summe im heutigen Wert von circa 11,5 Millionen US-Dollar gesammelt, so dass 150.000 Bedürftigen geholfen werden konnte. Dafür kam Mitte Februar 1896 das Rote Kreuz unter der Leitung der 75jährigen Clara Barton nach Anatolien.
Jedoch war die Notlage so groß, dass trotz großem Organisationstalent und größter Anstrengung diese nur ansatzweise abgemildert werden konnte. Als etwa eine Gruppe von 57 armenischen Honoratioren eine mehrtägige Reise nach Erzurum unternahm, um Hilfe zu beantragen, musste sie aufgrund von Mittelknappheit abgewiesen werden und unverrichteter Dinge in ihre Gemeinden zurückkehren. Dabei war ihre Lage ohnehin verzweifelt, denn: »Wir haben kein Saatgut zum Säen, und selbst wenn wir welches hätten, hätten wir keine Ochsen, um den Boden zu pflügen; und selbst wenn wir welche hätten, hätten wir keine Pflüge; und selbst wenn wir welche hätten, hätten wir keine Eggen; und selbst wenn wir all das hätten, würden wir es nicht wagen, unser Dorf zu verlassen, um zu unseren Feldern zu gehen, aus Angst, die Kurden könnten über uns herfallen; und selbst wenn wir unsere Felder säen könnten, hätten wir keine Gewissheit, dass wir sie auch ernten könnten, und selbst wenn wir das könnten, hätten wir kein Vertrauen, dass die Kurden im nächsten Herbst nicht wieder über uns herfallen und uns erneut ausplündern würden.«
Neue Gewalt
Zusätzlich zu dem täglichen Kampf ums Überleben mussten viele Armenier mit der ständigen Furcht vor erneuten Massakern leben – sei es, dass feindlich gesinnte Nachbarn diese selbst androhten, sei es, dass solche Gerüchte aus entfernteren Regionen armenische Gemeinden erreichten oder aber dass Regierungsmaßnahmen Anlass zu Spekulationen über erneute Pogrome boten. Im Juni 1896 wurde diese Furcht wiederholt auf fatale Weise als berechtigt bestätigt, als Nachrichten über Kämpfe in der Stadt Van publik wurden. Dorthin hatten sich zuvor 20.000 armenische Dorfbewohner geflüchtet, nachdem bis zu 3.500 auf dem Land ermordet worden waren. In der Stadt selbst hatten bis dahin militante armenische Organisationen sowie der Provinzpräsident Übergriffe verhindert – bis Mitte des Monats »Polizei«- und Armeeeinheiten im Verbund mit städtischen und ländlichen Muslimen sowie lokalen Kurden den Widerstand brachen und dabei circa 400 Armenier töteten.
Zwei Monate später besetzten Anhänger der armenischen Daschnakzutjun-Partei in Desperadomanier in Istanbul die Ottoman-Bank mit der Forderung, die rechtliche Situation der Armenier endlich zu verbessern. Nach der misslungenen Aktion konnten sie zwar ihre Flucht nach Marseille aushandeln, jedoch wurden in Reaktion darauf mindestens 1.300 armenische Stadtbewohner massakriert. Hinter vorgehaltener Hand sagte man, dass die Regierung dem Mob freie Hand gelassen habe, woraufhin bewaffnete Angreifer von der asiatischen auf die europäische Seite Istanbuls kamen und zwei Tage lang Jagd auf Armenier machten. Unter dem Vorwand, dass ein Verwandter der Istanbuler Besetzer aus der Stadt Kemaliye stammte, wurde dort drei Wochen später ein Pogrom initiiert, bei dem 500 bis 800 Armenier ermordet wurden.
Damit endete die Welle der antiarmenischen Massengewalt vorerst. Was aber blieb, waren die antagonistischen Widersprüche in der Verfasstheit der osmanischen Gesellschaft, die in nicht geringem Grade durch die Entwicklungen auf internationaler Ebene – insbesondere durch die zwischenimperialistische Rivalität – verschärft wurden. Dass der Untergang der osmanischen Armenier in diesem Zusammenhang einzuordnen ist, macht der Ausspruch von Reichskanzler Bethmann Hollweg zu Beginn des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs deutlich: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darob Armenier zugrunde gehen oder nicht.«
Bartek Arasimowicz ist Historiker und beschäftigt sich mit mit sozialen Konflikten und Massengewalt.
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