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Aus: Ausgabe vom 22.09.2025, Seite 4 / Inland
Russische »Provokation«

Hardliner fordern Abschuss

Hysterische Reaktionen nach angeblicher Luftraumverletzung
Von Kristian Stemmler
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Will auf russische Kampfjets schießen lassen: CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt (Berlin, 16.10.2024)

Nach Meldungen über ein angebliches Eindringen russischer Kampfflugzeuge in den Luftraum Estlands am Freitag waren die Bellizisten in Politik und Medien der BRD nicht mehr zu halten. »Warum wurden die Russen-Jets nicht abgeschossen?«, titelte das Boulevardblatt Bild und befand sich damit in Einklang mit CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt, der trotz unklarer Beweislage harte Gegenmaßnahmen »bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über NATO-Gebiet« forderte.

»Der Kreml braucht ein klares Stoppschild«, erklärte Hardt gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Die »Provokationen und Tests Russlands« würden nur enden, »wenn wir sämtliche militärischen Grenzverletzungen klar beantworten«. Andernfalls werde »die russische Kriegeslogik immer weiter zündeln«, unkte der CDU-Mann und versuchte, die Kriegsangst in der Bevölkerung anzuheizen: »Jetzt sind es Luftraumverletzungen, bald der Beschuss einzelner Ziele, dann kommen russische Soldaten.«

Für derart hysterische Reaktionen besteht kein Grund. Wie schon beim Eindringen mutmaßlich aus Russland stammender Drohnen in den polnischen Luftraum vor knapp zwei Wochen gibt es auch diesmal keinen Beleg dafür, dass es sich um Provokationen handelte. Am Freitag hatte das estnische Außenministerium gemeldet, drei russische Jets seien in den Luftraum nahe der zu Estland gehörenden Insel Vaindloo vorgedrungen und dort insgesamt zwölf Minuten lang geblieben. An der NATO-Luftraumüberwachung über Estland beteiligte F-35-Kampfjets der italienischen Luftwaffe fingen die Flugzeuge nach Angaben der Kriegsallianz ab.

Russlands Regierung wies die Darstellung Estlands postwendend zurück. Der betreffende Flug habe »unter strikter Einhaltung der internationalen Luftraumregeln« stattgefunden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau laut TASS mit. Die MiG-31-Jets seien nicht von der abgesprochenen Flugroute abgewichen und hätten »nicht den estnischen Luftraum verletzt«. Vielmehr habe die Route über neutrale Gewässer mehr als drei Kilometer nördlich der estnischen Insel geführt. Das Militär in Moskau sprach von einem Überführungsflug der MiG-31 aus Russland in die Exklave Kaliningrad.

Im Gegensatz zu deutschen Hardlinern zeigte die NATO wenig Interesse an einer weiteren Eskalation. Eine Sprecherin des Bündnisses bezeichnete den Vorfall laut AFP lediglich als »weiteres Beispiel für das rücksichtslose Verhalten Russlands«. Die NATO-Verbündeten wollen Anfang der Woche über die von Estland gemeldete Luftraumverletzung beraten. Es werde Konsultationen nach Artikel 4 des NATO-Vertrags geben, sagte ein Sprecher gegenüber dpa. Artikel 4 sieht Beratungen mit den Verbündeten vor, wenn sich ein NATO-Staat von außen gefährdet sieht. Zudem soll der UN-Sicherheitsrat auf estnischen Antrag an diesem Montag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.

Die SPD-Verteidigungsexpertin Siemtje Möller rief die NATO auf, bei ihren Konsultationen über den Ausbau ihrer Luftüberwachung an der »Ostflanke« zu beraten. Sie erwarte eine entschlossene und zugleich besonnene Reaktion der NATO, sagte Möller dem RND. Generalinspekteur Carsten Breuer will in der Truppe schnell neue Waffensysteme zur Abwehr von Drohnen zum Einsatz bringen. Am Ende werde es vermutlich darauf hinauslaufen müssen, »dass wir Drohnen gegen Drohnen einsetzen«, sagte Deutschlands ranghöchster Soldat gegenüber dpa.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt setzt auch für die »innere Sicherheit« auf eine verstärkte Drohnenabwehr. »Auf der nächsten Innenministerkonferenz plazieren wir das Thema prominent auf der Tagesordnung«, sagte der CSU-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf Gerkan aus Hannover (22. September 2025 um 13:36 Uhr)
    Inzwischen hat Estland eine Karte mit der vorgeblichen Flugroute der russischen MiG-31 durch den estnischen Luftraum veröffentlicht (https://x.com/MoD_Estonia/status/1969335755769069613). Demnach sind zuvor kursierende Meldungen unzutreffend, dass die Luftraumverletzung bei der Insel Vaindloo stattgefunden hätte. Wenn die Karte stimmt, liegt die Flugroute klar innerhalb der 12-Meilen-Zone, über der grundsätzlich die estnische Lufthoheit gilt. Von russischer Seite heißt es dementgegen: »Während des Fluges wichen die russischen Flugzeuge nicht von der vereinbarten Flugroute ab und verletzten nicht den estnischen Luftraum.« Das meldete auch RT. Unabhängig davon, was nun stimmt, sollte man eines nicht aus den Augen verlieren: Völkerrechtsverletzungen durch den Westen sind weit zahlreicher als solche durch Russland. Über ungezählten Ländern fliegen zahllose US-Drohnen, und sie fliegen dort nicht nur sondern schießen und bomben dort auch frei herum - tödlich und oft dauerhaft traumatisierend. Auch Estland sollte angesichts der völkerrechtswidrigen Diskriminierung der russischen Minderheit im Lande nicht so allzu laut über Völkerrechtsverstöße der russischen Seite klagen. Man kann nur zur Besonnenheit mahnen. Wenn Wadephul ein Abfangen der Eindringlinge empfiehlt, würde ich das für eine vertretbare Reaktion halten. Wenn ein CDU-Heißsporn Hardt gleich einen Abschuss fordert, so bin ich dagegen. Das wäre Mordversuch an jemandem, der keinen umgebracht hat. Das wäre vollkommen unverhältnismäßig.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich Hopfmüller aus Stadum (21. September 2025 um 21:51 Uhr)
    Das kann man in der wikipedia lesen: »Vaindloo ist Estlands nördlichste Insel. Sie ist 600 m lang und 200 m breit. Bekannt ist Vaindloo wegen seines 17 m hohen Leuchtturms; er wurde 1871 errichtet (Vorgängerbau aus Holz von 1718). Daneben befindet sich eine Station des estnischen Grenzschutzes mit einem 50 m hohen Beobachtungsturm und einem Radar auf der Insel.« Weiters ist es mir gelungen, diese Insel in google-Maps zu finden. Die grösste Breite der Insel erstreckt sich über 200 Meter ost-westlich. Addiert man zu den 200 Metern Breite zweimal 12 Meilen Hoheitsgewässer, kommt man auf 44,648 Kilometer estnisch-hoheitlichen Luftraums. Mit meinem Opel 120 (km/h) könnte ich diese Strecke in 23 Minuten durchfahren, mit einem Porsche (300 Kilometer pro Stunde) in neun Minuten. Die drei russische Jets müssen ihre Bremsschirme ausgefahren haben, um dort insgesamt zwölf Minuten lang geblieben zu sein. Oder ist der Leuchtturm so schön, dass man ein paarmal drumherum gurken muss? Bei 650 Kilometern pro Stunde würden drei Flieger in Summe etwa 12 Minuten für die 44,648 Kilometer benötigen. Möglicherweise ist das Radar dort zu solchen arithmetischen Kunststücken fähig.

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