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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 16 / Sport
Schach

Micky-Maus-Turniere

Freuden der Kleinviehhaltung: Hikaru Nakamura zementiert mit unkonventionellen Mitteln Rang zwei der Schachweltrangliste
Von Sören Bär
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Das schöne Finale blieb hinter den Kulissen: Mit dem Springeropfer 41.Sh8+! hätte Hikaru Nakamura das forcierte Matt erzwungen

Hikaru Nakamura wäre als Weltranglistenzweiter für das Kandidatenturnier zur Schachweltmeisterschaft gesetzt. Doch dafür muss er im Jahr 2025 mindestens 40 ausgewertete Partien spielen. Der 37jährige US-Amerikaner nähert sich diesem Ziel auf unkonventionelle Weise: Er gewinnt kleine Openturniere und eine Menge Sympathien in seiner Heimat.

Beim Grand-Swiss-Turnier in Samarkand (Usbekistan), wo vom 3. bis 16. September zahlreiche Weltklassespieler um zwei Plätze im WM-Kandidatenturnier rangen, suchte man den Namen des Weltranglistenzweiten Hikaru Nakamura (USA) vergebens in der Teilnehmerliste. Im Achterfeld des nächsten Kandidatenturniers 2026 ist auch ein Platz für den im Welt-Ranking am höchsten plazierten Spieler reserviert. Da nicht damit zu rechnen ist, dass der norwegische Weltranglistenspitzenreiter Magnus Carlsen (Norwegen) antreten wird, käme gegenwärtig Nakamura in den Genuss des Freiplatzes. Doch der Weltverband FIDE hat eine zusätzliche Hürde geschaffen: Es müssen mindestens 40 nach ELO ausgewertete Partien im Kalenderjahr 2025 gespielt werden, damit man sich nicht durch Inaktivität den Weg in die Kandidatenselektion sichern kann. Nakamura bestritt jedoch in der ersten Jahreshälfte lediglich 18 klassische Partien – acht beim American Cup in St. Louis und zehn beim Norway Chess in Stavanger, so dass ihm noch 22 fehlten. Was sollte er tun?

Nakamura versteht sich heutzutage als Streamer und verzeichnet als »GMHikaru« auf Youtube gegenwärtig 3,01 Millionen Follower. Zudem ist seine Frau, die aus dem Iran stammende Großmeisterin Atousa Pourkashiyan, schwanger, so dass der Weltklassemann ungern für mehrere Wochen verreisen wollte. Nakamura fand eine unkonventionelle Lösung: Er bestreitet kleinere Openturniere in den USA, zu denen sich sonst nie ein Elite-GM verirrt – er nennt sie selbst »Micky-Maus-Turniere«. Ende August trat er in New Orleans zur Louisiana State Championship an. Damit überraschte er sowohl die lokale Community als auch die Schachwelt. Nakamura brachte 2.807 ELO-Punkte auf die Waage, sein stärkster Kontrahent war FIDE-Meister Nicholas Matta mit 2.250. Nakamura sah sich in der Begegnung mit Matta unerwarteten Schwierigkeiten konfrontiert, gewann aber dennoch am Ende mit dem perfekten Score von sieben aus sieben.

Während das Preisgeld für Nakamura kaum interessant war, spielten für ihn die sechs gewerteten seiner sieben Partien eine bedeutendere Rolle. Nur die erste Runde wurde mit einer schnelleren Bedenkzeit gespielt und entsprach deshalb nicht den FIDE-Vorgaben. Nakamura konnte sogar seine ELO-Zahl um 4,8 Punkte steigern, denn aufgrund einer Regelung des Weltverbandes gewinnt der stärkere Spieler bei Siegen gegen mehr als 400 Ratingpunkte schwächere Kontrahenten jeweils 0,8 Zählern hinzu.

Nur wenige Tage danach beteiligte sich Nakamura auch am 70. Iowa Chess Open, einem Wochenendturnier in Iowa City mit fünf Runden. Wiederum blieb er in allen Begegnungen siegreich und erreichte somit mit fünf aus fünf Rang eins, wobei sein stärkster Gegner der Meisterkandidat Anjaneya Rao mit einer Ratingzahl von 2.147 war. Nakamura gewann weitere vier Ratingpunkte und liegt mit 2.816 nunmehr nur noch 23 Zähler hinter Carlsen. Der Norweger erklärte, er möge Nakamuras Vorgehen, weil dieser damit so »schamlos« die geltenden Regularien ausnutzen würde. Nakamura kommentierte alle Partien auf seinem Youtube-Kanal und erinnerte dabei nostalgisch daran, dass mit derartigen Turnieren seine Karriere begann. Er genoss es vor Ort sichtlich, die Partien mit seinen Gegnern zu analysieren und erwarb sich durch seine unprätentiöse Art viele Sympathien. Nakamura verwies auch darauf, dass er sich im Herbst seiner Karriere befände und sich ihm vielleicht nur noch diese eine Chance zur Teilnahme am Kandidatenturnier böte. Auch der frühere Weltmeister Robert James »Bobby« Fischer bestritt in den frühen 1960er Jahren Open-Turniere in den USA und absolvierte 1964 eine legendäre Simultantournee.

Nakamura ist übrigens nicht der einzige Weltklassespieler, der sich die FIDE-Regeln zunutze macht: Im Dezember 2023 gewann Alireza Firouzja (Frankreich) das Open in Rouen mit sieben aus sieben, überholte dadurch Wesley So (USA) in der Weltrangliste und qualifizierte sich für das Kandidatenturnier 2024 in Toronto. Die Schachwelt stellt sich im Moment einzig die Frage: Wo will Hikaru Nakamura die noch fehlenden elf Partien absolvieren?

Hikaru Nakamura – Nicholas Matta, Louisiana State Championship, New Orleans, Runde sechs, 1. September 2025, Abgelehntes Damengambit – Abtauschvariante (D35)

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.cxd5 exd5 5.Lg5 c6 6.e3 (Die klassische Karlsbader Bauernstruktur ist entstanden.) 6…Ld6 (6…Le7 ist üblicher.) 7.Ld3 O-O 8.Sf3 (Mit 8.Sge2, 9.Dc2 und 10.0-0-0 ließe sich kompromisslos auf Königsangriff spielen, doch Nakamura vermeidet unnötige Risiken.) 8…Te8 9.O-O Lg4! 10.Dc2 (Auf die prinzipielle Fortsetzung 10.Db3 fürchtete Nakamura gegnerische Präparation. Man muss den Trick 10…Sa6 11.Dxb7?? Sb4! kennen, wonach 12…Te7! die weiße Dame fängt.) 10…h6 11.Lh4 Sbd7 12.Tae1 Sf8 13.Sd2 Lh5! 14.f4 g5! 15.Lg3 Sg6! (Dies kam für Nakamura unerwartet, der nur mit 15…Sg4 rechnete.) 16.Lxg6 (Nakamura verfiel nach eigenen Worten etwas in Panik wegen des starken Spiels seines Opponenten. Besser war 16.Sf3!, doch dies hätte ein Bauernopfer impliziert und erschien ihm im Gewinnsinne als nicht klar: 16…gxf4 17.exf4 Sxf4 18.Txe8+ Dxe8 19.Dd2! Sxd3 20.Lxd6 +/=.) 16…Lxg6 17.Dd1 Ld3!? (Statt des naheliegenden Läuferzuges hätte der Nachziehende mit 17…b5! die bessere Position erlangt.) 18.Tf2 g4?! (18…Lg6! war nicht leicht zu finden, nachdem dieser Läufer erst nach d3 gezogen hatte.) 19.Lh4! (Eine tödliche Fesselung: Weiß droht simpel, auf f6 zu tauschen und den Bauern g4 zu kassieren.) 19…h5?! (19…Lb4! war der beste Versuch. Nach 20.Lxf6 Dxf6 21.Dxg4+ Kh7 hätte Schwarz angesichts des Läuferpaars und der halboffenen g-Linie passable Kompensation für den geopferten Bauern.) 20.Db3!? (Nakamura sah 20.e4! Lxe4 21.Sdxe4 dxe4 22.Sxe4 Txe4 23.Txe4 Sxe4 24.Lxd8 Sxf2 25.Kxf2 Txd8 26.Kg3 +/-, war sich aber nicht ganz sicher, ob Schwarz eine Festung errichten kann…) 20…La6? (Danach ist es vorbei. Nur 20…Le7! bot Überlebenschancen.) 21.e4! Le7 22.e5! Sd7 23.Lxe7 Dxe7 24.Sf1 Lxf1 25.Tfxf1 Sb6 26.Dc2 De6 27.f5 Dh6 28.f6! +- Sd7 29.h3?! (Nakamura sollte mit 29.Sd1! seinen Springer via e3 nach f5 manövrieren.) 29…gxh3 30.Df5?! (30.Tf5!) 30…Sf8?! (30…hxg2) 31.Dxh3 Te6 32.Tf5! h4 33.Se2 Sg6 34.Tef1 Dd2 35.Dg4 Kf8 36.Tg5 De3+ 37.Tf2 De4 38.Sf4! 1:0 (Die schönen Varianten blieben: Auf 38…Te8 folgt 39.Txg6! fxg6 40.Sxg6+ Kf7 41.Sh8+! Txh8 42.Dg7+ Ke6/Ke8 43.De7# bzw. 40…Kg8 41.Se7+ Kf7 42.e6+! Dxe6 43.Dg7#.).

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