»Der Verfassungsschutz ist Teil des Problems«
Interview: Kristian Stemmler
In Hamburg feiert das Landesamt für Verfassungsschutz sein 75jähriges Bestehen und wird mit einer Ausstellung im Rathaus geehrt. Wie ist Ihre Sicht auf dieses Jubiläum?
75 Jahre Verfassungsschutz sind für uns kein Anlass zum Feiern, sondern Anlass zu einer kritischen Bestandsaufnahme. Der Verfassungsschutz hat die größte Bedrohung im Land, den Rechtsterrorismus, jahrelang nicht erkannt. Er hat den NSU-Komplex und die rechten Netzwerke nicht nur übersehen, sondern, was schlimmer ist, diese Netzwerke sogar gefördert, hat die V-Leute in deren Umfeld finanziert. Das zeigt deutlich, dass der Verfassungsschutz Teil des Problems ist, dass wir es hier mit einem strukturellen Versagen zu tun haben.
Torsten Voß, Leiter des Landesamtes, sieht das ganz anders. Er schreibt zum Jubiläum, der Verfassungsschutz sei das »Frühwarnsystem unserer Demokratie«, ein »Seismograph, der bereits bei leichten Erschütterungen arbeitet«.
Angesichts des Versagens der Behörde ist das selbstverständlich grotesk. Tatsächlich ist der Inlandsgeheimdienst oft genug auf dem rechten Auge blind. Ausgehend von der sogenannten Hufeisentheorie, die rechts und links gleichsetzt, werden linke Strukturen dann unverhältnismäßig ins Visier genommen. Während Rechte unter dem Radar marschieren oder gar als V-Leute bezahlt werden, nimmt der Verfassungsschutz antifaschistische Aktivisten ins Visier und steckt sie in eine Extremismusschublade.
Einer der NSU-Morde geschah in Hamburg. Doch das Landesamt erschwert bis heute die Aufarbeitung. Wie sieht das konkret aus?
Die Bürgerschaft hat ein Forschungsteam mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Mordes in Hamburg beauftragt. Doch eine Anfrage unserer Fraktion hat ergeben, dass die Forschenden nur eingeschränkten Zugang zu Akten erhalten. Für eine wissenschaftliche Aufarbeitung ist vollständige Transparenz aber zwingend notwendig. Solange zentrale Akten geschwärzt werden und die Rolle von V-Leuten systematisch im Dunkeln bleibt, kann von echter Aufklärung keine Rede sein.
Der Hamburger Verfassungsschutz soll durch eine Wiedereinführung der Regelanfrage noch mehr Macht bekommen. Was genau ist geplant?
Der »rot-grüne« Senat beabsichtigt zum 1. Januar 2026, die Regelanfrage bei Einstellungen in den öffentlichen Dienst wieder einzuführen. Bei allen Bewerbern, ob Beamte oder Angestellte, soll der Verfassungsschutz Auskunft geben. So bekommt das Landesamt noch mehr Einfluss. Er fungiert als eine Art politischer Türsteher, entscheidet eigenmächtig, ob jemand für den öffentlichen Dienst geeignet ist oder nicht, ob er ein »Extremist« ist oder nicht. Wir sehen, dass der Verfassungsschutz auch bundesweit immer größeren Einfluss bekommt, dass er darüber entscheidet, wer ein Verfassungsfeind ist und wer nicht. Menschen, die sich antifaschistisch engagieren, geraten schnell ins Visier des Dienstes.
Wobei der Inlandsgeheimdienst seine Entscheidungen ja in der Regel nicht offenlegt.
Ja, das ist die fehlende Transparenz, die wir kritisieren. Die operative Arbeit findet im Geheimen statt. Es gibt keine demokratische Kontrolle. Ich bin Mitglied im parlamentarischen Kontrollausschuss der Bürgerschaft. Aber der Verfassungsschutz kann vom Parlament nicht wirklich kontrolliert werden, weil er selbst entscheidet, was er erzählt und was er nicht erzählt. Wir wissen nie, ob der Verfassungsschutz uns Informationen vorenthält.
Die Linke fordert schon länger eine Abschaffung des Verfassungsschutzes. Wie könnte eine Alternative aussehen?
Es könnte eine Beobachtungsstelle geben, ein wissenschaftliches Institut etwa, das rechte Netzwerke analysiert und regelmäßig vollumfänglich gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit Bericht erstattet. So kann ich mir vorstellen, dass wir wegkommen von diesen geheimdienstlichen Strukturen und den V-Leuten. So wie er jetzt aufgestellt ist, ist der Verfassungsschutz kein Frühwarnsystem, sondern wie gesagt Teil des Problems.
Deniz Celik ist innenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft
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