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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 5 / Inland
»Aktivrente«

Ausbeutung bis aufs Sterbebett

Koalition einigt sich auf »Aktivrente«. Kritiker nennen Konzept teuer, ungerecht und wirkungslos
Von Ralf Wurzbacher
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Viele sind nach einem langen Berufsleben kaum noch in der Verfassung, weiterzuarbeiten

Rente mit 70? Lässt sich schwerlich durchsetzen – noch. Denn wer schuftet schon gerne bis ins hohe Alter, um seinen wohlverdienten Ruhestand bis zum Ableben zu verkürzen. Und wenn schon, sagt die Bundesregierung, man muss eben nur die richtigen Anreize setzen. Ihr Rezept: die »Aktivrente.« Wer das gesetzliche Rentenalter erreicht hat und trotzdem weiterarbeitet, soll künftig bis zu 2.000 Euro Gehalt im Monat steuerfrei erhalten. So sieht es ein von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) initiierter Gesetzentwurf vor, den er in die sogenannte Frühkoordinierung mit dem Kanzleramt gegeben hat.

Regierungschef Friedrich Merz (CDU) bestätigte am Dienstag beim Maschinenbaugipfel in Berlin eine grundsätzliche Einigung in der Sache. Er sei sich ziemlich sicher, mit dieser Methode mehr zu erreichen »als mit Befehl und Gehorsam, mit Repression und mit gesetzlichen Regeln«, erklärte er. Seine Zauberformel heißt also »Freiwilligkeit«. Bei den verbreiteten Armutsrenten ist das eine recht scheinheilige Offerte. Nach Angaben des Sozialministeriums aus der Vorwoche mussten sich mehr als acht Millionen Rentner in Deutschland im vergangenen Jahr mit Bezügen unter 1.000 Euro monatlich durchschlagen, Tendenz steigend. Wie viele davon »freiwillig« länger Dienst schieben würden, damit sie es nicht ganz so schlecht haben, wird sich zeigen müssen. Losgehen soll es mit der Neuregelung schon zum 1. Januar 2026.

»Die ›Aktivrente‹ wird außer Mitnahmeeffekten für ohnehin schon gut bezahlt weiterarbeitende Rentner nichts bringen«, ist sich Reiner ­Heyse von der Initiative »Rentenzukunft« sicher. »Die allermeisten Leute wollen oder müssen nach einem körperlich verschleißenden Erwerbsleben in Rente und das mit hohen Abschlägen«, äußerte er sich am Mittwoch gegenüber junge Welt. Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) wechselten 38 Prozent der Neurentner 2023 mit durchschnittlichen Rentenkürzungen von 9,6 Prozent aufs Altenteil. Unter den Bestandsrentnern waren es »nur« 36 Prozent, die im Mittel 32 Monate vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Berufsleben ausschieden. Der Trend, sich eher früher als später vom Arbeitsmarkt zu verabschieden, gewinnt demnach eher sogar an Stärke. Dagegen wäre die Steuerfreiheit »bloß für wenige Promille der Rentner von Interesse«, meint Heyse. Für ihn ist das Konzept deshalb vor allem »propagandistische Begleitmusik, von wegen die Deutschen müssen länger arbeiten – die Rente ab 70 muss kommen«.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann behauptet indes, mit dem Instrument »einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel« zu leisten. Diesem Ziel soll auch das Vorhaben dienen, Überstundenzuschläge steuerfrei zu stellen, solange sie 25 Prozent des Grundlohns nicht übersteigen. Union und SPD rechnen mit jährlich 25.000 Menschen, die das Angebot der »Aktivrente« wahrnehmen. Die Regelung soll zunächst nur für »Arbeitnehmer«, nicht für Selbständige und auch nicht in Fällen eines vorgezogenen Ruhestands greifen.

Das alles koste Milliarden, »löst aber keines der vorhandenen Probleme«, hatte zuletzt schon Anja Piel vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und amtierende DRV-Präsidentin moniert. Profitieren würden »Menschen mit guten Renten und Arbeitsbedingungen, meist in Bürojobs«. Dass hingegen der große Rest nach Renteneintritt nicht weiterarbeitet, liege an der Gesundheit, den Arbeitsbedingungen oder schlicht daran, nicht mehr gebraucht zu werden, so Piel. »Richtige Antworten auf den demographischen Wandel« sind für sie »altersgerechte Arbeitsplätze und Wege für Frauen aus unfreiwilliger Teilzeit«.

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