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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 1 / Titel
Generaldebatte

Millionär predigt Verzicht

Bundeskanzler Friedrich Merz schürt Hass auf Russland und Arme und will Sozialsystem weiter demontieren
Von Arnold Schölzel
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Wer hat, dem wird gegeben. Der Kanzler und sein Vize machen Sozialpolitik (17.9.2025)

Gürtel enger schnallen! In der Generaldebatte des Bundestages zum Haushalt 2025 kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) tiefgreifende Veränderungen vor allem bei staatlichen Sozialleistungen über seinen angekündigten »Herbst der Reformen« hinaus an. Der größten Oppositionsfraktion AfD ging das nicht weit genug, sie kritisierte mangelnden »Reform«willen. Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke beklagten eine Politik auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft.

Merz dramatisierte, es gehe im Herbst um wichtige Entscheidungen, »nicht um Details«, sondern »um sehr Grundsätzliches«, »um die Zukunft unseres Landes«. Drei »Realitäten« müssten nüchtern betrachtet werden, um an dieser »Wegmarke« »den richtigen Pfad einzuschlagen«: »Erstens: Unsere Freiheit ist bedroht.« Merz erläuterte das mit Blick auf den Ukraine-Krieg, »der von Russland und nur von Russland!« ausgehe, und behauptete: »Wir wollen, dass dieser Krieg endet.« Dem folgte eine Hasspredigt: »Putin testet längst die Grenzen. Er sabotiert. Er spioniert. Er mordet. Er versucht zu verunsichern. Russland will unsere Gesellschaften destabilisieren.« Nun aber werde wieder zurückgeschreckt: »Deutschland gestaltet wieder in Europa und enthält sich nicht länger.« Merz wähnt sich sogar als Retter der NATO: Die Ermächtigung des Bundestages zur unbegrenzten deutschen Aufrüstung habe »maßgeblich dazu beigetragen, dass die NATO auf dem Gipfel Ende Juni in Den Haag eben nicht auseinandergebrochen ist, sondern dass sie im Gegenteil heute stärker ist denn je.«

Die zweite Realität: »Unser Wirtschaftsmodell steht unter Druck.« Gemeint war nicht der Krisenkapitalismus, den Merz als Blackrock-Manager lange betreut hatte, sondern dessen übliche Nebenerscheinungen: »neuer« Protektionismus, »hohe Energiepreise« und »überbordende Bürokratie«. Immerhin führte der Kanzler als Problem auch »eine Welle technologischer Innovationen« an. Die Bundesrepublik hängt schließlich in der Produktivkraftentwicklung reichlich hinterher.

Die dritte Realität war vage: »Unser Zusammenhalt wird offen in Frage gestellt«, womit Merz nicht Klassenspaltung und maßlose Bereicherung der Reichen meinte. Somit war die Konsequenz vorgegeben: Es gehe um den Sozialstaat und um »einen neuen Konsens darüber, was Gerechtigkeit in unserer Zeit heute eigentlich heißt.« Nämlich: »Reform« der Sozialsysteme. Bei der Rente müsse »der Generationenvertrag neu gedacht werden«. Und auch das Bürgergeld genügt nicht dem Merzschen Gerechtigkeitskonsens.

SPD-Fraktionschef Matthias Miersch bekannte sich zum Kampf gegen »Sozialmissbrauch« und erwähnte die »ganz großen Vermögen« als mögliche Geldquelle. AfD-Chefin Alice Weidel fand, Merz habe alle Wahlversprechen gebrochen: Kampf gegen Linke, Migration, Schuldenbremse, Senkung der Stromsteuer. Der »Umfallerei« folge nun »ein zusammengeschusterter, verantwortungsloser Haushalt ohne Maß und Ziel«. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge rügte »Ablenkungsdebatten« über das Bürgergeld: »Die Mehrheit muss den Gürtel enger schnallen und einige wenige, die kriegen noch Geld obendrauf.« Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek sah bei Merz eine »zynische, widerliche Politik«. Was die Regierung als Gerechtigkeit verkaufen wolle, sei »nichts anderes als Armenhass«. Statt einen »armutsfesten Mindestlohn« zu schaffen, plane die Koalition einen »Herbst der sozialen Grausamkeiten«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (19. September 2025 um 11:23 Uhr)
    Wenn Merz behauptet, Russland wolle unsere westlichen »Gesellschaften destabilisieren«, ist das sehr zu hinterfragen. Das Gegenteil, nämlich, dass der Westen Russland destabilisieren will, ist deutlich plausibler, wenn ich etwa an das mit deutscher Unterstützung von Nawalny produzierte und mit Fakenews und Spekulationen gespickte Video über Putins vorgeblichen Palast denke. Russland hingegen war 2013/2014 bemüht, die Ukraine mit einem 15-Milliarden-Kredit zu stabilisieren. Es ist für mich unmittelbar einsichtig, dass Wohlstandsgewinn stabilisierend wirkt, Verarmung dagegen Suche und Streit um das Verlorene begünstigt. Der fragwürdigen EU-Assoziierung folgte bekanntlich kein Wohlstandsgewinn für die Ukraine, sondern ein katastrophaler Wirtschaftseinbruch. Wer also war um Stabilisierung bemüht, und wer hat für Destabilisierung gesorgt? Es war der Westen, der mit der Verarmung der Ukraine dazu beitrug, dass radikale Stimmen dort als vermeintliche Heilsbringer mehr Gehör fanden. Wenn der Herr Merz nun den Deutschen eine Milliarde nach der anderen rauben will, um sie im ukrainischen Sumpf zu versenken, dann ist es auch bei uns der Herr Merz, der mit seiner Politik der Verarmung für Spannungen in unserem Land sorgt. Auch Merz’ Ansage, Putin wolle Grenzen testen, ist so ohne Kontext falsch. Denn es war ja zunächst die westliche Politik, die mit bewussten Grenzüberschreitungen in ihrer Ukraine-Politik Grenzen des Zulässigen zu verschieben trachtete. Da ist etwa die völkerrechtswidrige Einmischung des Westens in die Maidan-Unruhen zu nennen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es mitunter auch heraus. Merz’ seine Ansage, dass der Ukraine-Krieg »von Russland und nur von Russland« ausgehe, ist absurd und ignoriert u.a. Tausende unmittelbar vorangegangene Waffenstillstandsverletzungen. Dafür waren die Ukrainer selber verantwortlich, nicht aber Russland. Wer tatsächlich für Frieden ist, sollte lieber bei der Wahrheit bleiben und auch einem Gegner gegenüber gerecht sein.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (18. September 2025 um 14:52 Uhr)
    Die Illusionen sind nach wie vor groß, dass Kanonen und Butter doch irgendwie gleichzeitig finanzierbar wären. Bundeskanzler Merz redet Klartext: Wer sich gegen die Kanonen nicht auflehnt, wird sie auch bezahlen müssen. Und sie werden deutlich mehr kosten als nur die Butter. Notfalls auch unser aller Leben. Anzunehmen, den Herbst der Reformen könne man notfalls auch aussitzen, ist einfach nur potenzierte Naivität. »Es wird schon nicht so schlimm kommen« ist in Deutschland vor etwa 90 Jahren schon einmal schrecklich in die Hose gegangen.
  • Leserbrief von Manni Guerth aus Hamburg, Manni Guerth (18. September 2025 um 12:51 Uhr)
    Wie die BRD-»Demokratie« funktioniert: Man hockt vor dem Fernseher, sieht sich eine Bundestags-Laberei an, schimpft auf die Politiker, schimpft auf die Redner und fühlt sich hilflos, weil man nix machen kann, weil die Politkreaturen machen, was sie wollen. Alle vier Jahre schreien die Politkreaturen, die »Demokratie« sei in Gefahr, wenn man nicht wählen geht. Sie schreien, weil sie sonst ihren Platz am politischen und finanziellen Fressnapf verlieren. Das Volkswohl ist ihnen scheißegal. Hauptsache, die Partei bleibt am Leben und kontrolliert den Fressnapf.
  • Leserbrief von Michels (18. September 2025 um 07:38 Uhr)
    Die heute schon bekannten massiv steigenden Zinszahlungen der Bundesrepublik, die bis zu einem Viertel des Bundeshaushaltes ausmachen werden, freuen die Banken und Blackrock.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus z. Zt. Dedenitz/Steiermark/Österreich (18. September 2025 um 07:27 Uhr)
    Herbst der Reformen – auf Kosten des armen Deutschen. Wo bleiben solche Reformen wie die Vermögenssteuer, die dem Staat Milliarden bringen würde? Wo bleibt eine Steuer für die internationalen Techkonzerne, die hier im Land Milliardenumsätze machen, ihre Steuern aber in dem Land zahlen, wo es für sie am »günstigsten« ist? Wo bleibt die längst überfällige Reform der Sozialversicherungen hin zu einer Bürgerversicherung, in die alle und jeder einzahlt, auch Herr Merz und Konsorten? Die Liste möglicher sozial ausgewogener Reformen ist viel länger. Und eines wird ganz ausgeblendet – für Krieg und Rüstung sind unbegrenzt Mittel da – Mittel, die unsere Kinder, Enkel und deren Nachkommen zurückzahlen müssen. Und dass Herr Miersch die Vermögenssteuer erwähnt – geschenkt. Weil allein der Umsetzungswille fehlt. Alle Parteien im Bundestag ziehen die soziale Karte. Und die Partei Die Linke hat sich gleich zu Anfang verzockt – oder wer hat mit dafür gesorgt, dass der große Sozialstaatsvernichter ganz schnell ans Ruder kam? Mir fehlt immer mehr eine Partei im Bundestag, die diesem Staat und seinen Machthabern den Spiegel öffentlich vorhält. Aber diese Partei wird mit Trickserei daran gehindert, für ihre 2,5 Millionen Wähler laut und deutlich diese Machenschaften anzuprangern. 2,5 Millionen Menschen in diesem Land werden einfach außen vor gelassen. Aber die Folgen dieses Wahnsinns müssen sie mittragen – erzwungenermaßen ...

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