Spitzel enttarnt
Von Luc Śkaille, Nancy
In Frankreich ist ein Spitzel aufgeflogen, der mindestens drei Jahre lang Informationen über linke Aktivisten an Geheimdienste und die Polizei geliefert haben soll. Am vergangenen Dienstag haben französische Aktivisten den Fall publik gemacht. Demnach war der 24jährige Mohamed B., alias »Momo«, seit dem 6. April 2022 aktiv. In diesem Zeitraum lieferte er hauptsächlich über den Gruppenchat »Amigo« sensible Daten an fünf Polizisten. Von Interesse waren Aktionen linker Bewegungen im Bereich Antifaschismus, Ökologie, Antirassismus und Freiräume, der Aktionsradius des Spitzels reichte von Athen über Brüssel bis nach Berlin.
Auf dem Blog »indicparis« informiert eine Recherchegruppe detailliert über den Fall und dessen Dynamik, da die Behörden gleich mehrere Notlagen des jungen Mannes ausnutzten und ihn mit Strafverschonung und Geld belohnten. Im Gegenzug für die Zusammenarbeit half die Polizei bei »Medikamenten, Miete und Aufenthaltsstatus«. Außerdem erpressten die Beamten ihn den Angaben zufolge mit Beweismaterial über von ihm begangene Straftaten. Zum Teil gab es neben Schriftverkehr in Chats gleich mehrere physische Treffen pro Woche im Großraum Paris. Der Spitzel tauchte sehr unregelmäßig bei Treffen vor und nach Aktionen auf, übernahm aber nie Verantwortung. Die Polizei befragte »Momo« zu Neigungen, Identität, Gender, Pseudonymen und Kontakten von Personen und wollte besonders Details über konkrete Straftaten erfahren.
Der von Betroffenen als »sehr sympathisch und umgänglich« beschriebene »Momo« baute das Vertrauen der von ihm Bespitzelten über die Beteiligung an illegalen politischen Aktionen auf. Sein Schwerpunktgebiet waren linke Milieus in Paris, aber auch ländlichen Kämpfe, etwa gegen die A 69 in Südfrankreich oder beim Atommüllprotest in Bure. Dort war er zuletzt mehrfach aufgetaucht, bis die Recherchegruppe seine Machenschaften veröffentlichte. Auch in Deutschland, zuletzt beim »Rheinmetall entwaffnen«-Camp am letzten Augustwochenende in Köln, trat der Spitzel in Erscheinung und sammelte unter anderem im »anarchistischen Barrio« Informationen. Ob es einen Zusammenhang mit Ermittlungserfolgen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg bei einer Aktion gegen die israelische Rüstungsfirma Elbit Systems in Ulm gibt, bei der am Montag fünf Personen festgenommen wurden, ist unklar. Aus den veröffentlichen Chatprotokollen der »Amigo«-Gruppe geht jedoch hervor, dass »Momo« seine Führungsbeamten über das für Mitte September geplante Protestcamp gegen den Rüstungskonzern in Ulm informiert hatte. Brisant ist die Frage, welche Informationen des Spitzels an welche Behörden gelangten, und auf welcher rechtlichen Grundlage. In Frankreich gibt es keine ähnlich strenge Trennung zwischen Geheimdiensten und der Polizei wie in Deutschland.
Der Fall ist jedoch anders als die zahlreichen Spitzelaffären der 2010er Jahre, bei denen deutsche, österreichische, aber vor allem englische Polizisten linke Milieus unterwanderten. »Leider ist der Effekt in Sachen Repression im Zweifel der gleiche«, kommentierte eine ehemals mit »Momo« befreundete Genossin, die anonym bleiben will, gegenüber jW. »In jedem Fall ist der Verrat für das Umfeld unerträglich.« Im Laufe der Zeit entwickelte der Spitzel dem Dossier zufolge wachsenden Fleiß und arbeitete seinen Führungspersonen auch aus Eigeninitiative zu. Der Schaden, sowohl materiell als auch psychisch, dürfte bedeutend sein. Die Autoren des Dossiers rufen dennoch dazu auf, nicht in Paranoia zu verfallen und »das Nötige zu unternehmen«, um die Schäden zu begrenzen. Das betrifft besonders die Telekommunikation, denn »Momo« hat über die Jahre zahlreiche Kontakte gesammelt und ist aktivistischen Chatgruppen beigetreten.
Besonders interessant dürfte in der laufenden Auswertung die internationale Dimension sein. Das Interesse am westeuropäischen Raum, die Breite der Themenfelder und die Fähigkeit von »Momo«, soziale Kontakte zu knüpfen, haben den französischen Behörden tiefe Einblicke in Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegungen ermöglicht. Diese stellen sich nun erneut die immer wiederkehrende Frage: (Wie) können wir uns aktiv vor Spitzeln schützen?
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