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Aus: Ausgabe vom 15.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Völkermord in Gaza

»Wir können uns nicht den Luxus leisten aufzugeben«

Der Völkermord in Gaza, Repression gegen Palästina-Solidarität in Deutschland und Komplizenschaft
Francesca Albanese spricht zu »Germany in the economy of genocide« in der jW-Maigalerie (11.9.2025)
Studierende von FU und TU Berlin decken die Komlizenschaft ihrer Hochschulen mit Israels Krieg auf
Dieses Mal ohne von oben durchgesetzte Polizeipräsenz: Albanese klärt mit Aktivisten auf

Das Video zum Interview unter kurzlinks.de/AlbanesejW

Wir sind sehr froh, dass wir heute hier in Berlin mit Ihnen sprechen können. Anscheinend ohne jegliche Repression seitens des deutschen Staates, wie Sie sie im Februar erleben mussten. Ist diese Wahrnehmung richtig?

Ja, es ist ganz anders. Es ist keine Heuchelei. Kurz nach meiner Rückkehr nach Tunesien habe ich Gespräche mit der deutschen Regierung geführt. Auch bei den deutschen Beamten herrschte eine gewisse Bestürzung über meine Behandlung, so dass nicht alle Menschlichkeit verlorengegangen ist. Die Vorgehensweise der Polizei ist dennoch äußerst besorgniserregend. Ich habe das selbst erlebt. Es ist die gleiche Unterdrückung, die die breite Öffentlichkeit erlebt, die auf die Straße geht, um gegen den Völkermord zu protestieren. Natürlich ist das, was mir widerfahren ist, viel weniger schwerwiegend, aber es war sehr traumatisierend. Ich übertreibe nicht. Aber es gab einen Moment der Erkenntnis, der dadurch ausgelöst wurde.

Zum ersten Mal seit Jahren hatte ich keine Probleme einzureisen. In dieser Stadt gibt es soviel Herzlichkeit und Unterstützung. Es gab keinen Ort, an dem es nicht mindestens eine Person gab – Deutsche, keine Ausländer –, die mich angehalten und gesagt hat: »Oh, du bist Francesca, du bist also zurückgekommen. Danke für alles, was du tust. Es ist so wichtig, dass du hier bist.« Ich hatte eine Reihe von Treffen, die mir gezeigt haben, dass sich die Dinge ändern. Dabei möchte ich nicht beschönigen, denn es ist inakzeptabel, dass Menschen weiterhin auf der Straße zusammengeschlagen und von Strafverfolgungsbeamten ins Gesicht geschlagen werden. Die Bilder, die aus diesem Land kommen, sind schockierend. Aber es gibt ein Bewusstsein, eine Bewegung, einen Wandel in der öffentlichen Meinung.

Der Völkermord in Gaza ist nicht der erste, der vor aller Augen geschieht. Ich weiß, dass er besonders brutal ist, weil er im Fernsehen übertragen wird – von den Opfern selbst angeprangert und geschildert. 270 Journalisten wurden ermordet. Es wird also auch versucht, die Wahrheit zu unterdrücken. Aber gleichzeitig sind die Menschen in Gaza immer noch da und glauben an die Möglichkeit, ein Leben mit dem wenigen zu führen, das ihnen von Palästina geblieben ist. Und wir können uns nicht den Luxus leisten aufzugeben.

Zum ersten Mal gibt es ein globales Erwachen und eine globale Mobilisierung angesichts eines Völkermords. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Natürlich ist es das System, sind es die UN-Mitgliedstaaten, die Israel Straflosigkeit gewähren. Dieses System besteht aus der Komplizenschaft einer Vielzahl von Akteuren und Unternehmen, Universitäten, dem Finanzsektor und all denen, die die Situation normalisiert haben. Aber es herrscht eine Atmosphäre der Veränderung, und wir müssen wissen, dass es richtig ist, weiterhin die Anwendung des Völkerrechts zu fordern. Das ist kein Akt der Nächstenliebe, sondern der Menschlichkeit, der Verantwortung und des Rechts.

Wie beurteilen Sie die Zurückhaltung der deutschen Regierung und die zunehmende Kritik am Krieg Israels gegen Gaza?

Es geht nicht nur um die Regierung. Ich war gestern bei einem Vortrag an der sogenannten Freien Universität Berlin mit Professor Eyal Weizmann. Er erinnerte uns daran, dass Völkermord auch aufgrund der Leugnung von Völkermord stattfand. Das ist nichts Einzigartiges. Ich erinnere immer wieder daran, dass es ist nicht wahr ist, dass der Holocaust im Verborgenen stattfand, weil die Menschen nichts davon wussten. Sie wussten davon, weil der Völkermord mit der Diskriminierung und Dehumanisierung der jüdischen Bevölkerung begann. Es wurden Rassengesetze verabschiedet, um jüdische Menschen aus so vielen Bereichen des Lebens zu vertreiben. Und das war ein Akt des Parlaments.

Es gab also öffentliche Maßnahmen, mit denen Juden aus unserem zivilen Leben und dann aus dem Land getrieben wurden, um schließlich in den Tod geschickt zu werden. Die Menschen wussten davon. Die Menschen wissen immer Bescheid. Und es gibt eine Tendenz, den Völkermord zu leugnen, als Reflex der Entmenschlichung des anderen und als Nichtanerkennung der Würde der Opfer des Völkermords.

Aber ich möchte noch einmal darum bitten, dass wir uns auf das Positive konzentrieren, auf den Silberstreif am Horizont und die Tatsache, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass das, was geschieht, falsch und monströs ist. Und es gibt Menschen, die darauf reagieren, also sollte man angesichts der Verleugnung nicht verzweifeln, sondern weitermachen, weiter wachsen, weiter standhaft bleiben.

Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass die Menschen darüber nachdenken, was uns die Palästinenser in diesem Moment des äußersten Opfers, das sie als Volk erdulden, sagen. Und das ist das Wort »Sumud«. Das ist der Name der globalen Flottille auf dem Weg nach Gaza mit Menschen, die sich wirklich engagieren, ihr Leben aufs Spiel setzen und enorme Risiken für uns alle, für die Menschheit eingehen. Offen gesagt haben die UN-Mitgliedstaaten die Pflicht, die Belagerung zu beenden und den Völkermord zu stoppen. Sie tun es aber nicht.

Sumud bedeutet sowohl Widerstandsfähigkeit als auch Resilienz, die mehr ist als Widerstand und bedeutet, trotz aller Widrigkeiten weiterzuleben, würdevoll zu bleiben und zu lieben. Aber Sumud bedeutet auch die Fähigkeit zu reagieren, sich anzupassen, nicht passiv zu sein und flexibel zu bleiben, um Herausforderungen zu meistern. Ich finde das inspirierend.

Sie sind Rechtswissenschaftlerin mit langjähriger Erfahrung und müssen nun zusehen, wie die israelische Regierung die internationale Gerichtsbarkeit ignoriert und dabei von verbündeten westlichen Mächten Unterstützung erhält. Haben Sie das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Völkerrechts verloren?

Ich würde nicht sagen, dass ich das Vertrauen verloren habe, denn das Gesetz ist sehr klar und mächtig. Und es ist lehrreich zu verstehen, wie es verletzt wird. Denn es ist nicht der Mangel an rechtlicher Klarheit, es ist das Fehlen eines normativen Rahmens, das Fehlen der Durchsetzung. Es sollte also jemand auf Regierungsebene zur Rechenschaft gezogen werden. Und das wirkt sich dann auf alle Ebenen aus. Nachsicht wäre ein Privileg, sich dagegen zu entscheiden, weil wir müde sind. Und natürlich sind wir müde. Aber solange es Leben zu retten gibt, ist keine Zeit. Obwohl wir uns ausruhen, erholen und immer geistig, seelisch und körperlich gesund sein müssen. Aber noch einmal: In Zeiten des Völkermords müssen wir zusätzliche Anstrengungen fordern.

Sie arbeiten unermüdlich daran, öffentlich zu machen, was in Gaza geschieht und wer davon profitiert. Im Juni haben Sie einen Bericht zur Ökonomie des Genozids veröffentlicht. Wer profitiert in Deutschland?

Mein Bericht erwähnt 48 Unternehmen. Würde man ihn als bloße Auflistung betrachten, hätte ich versagt. Der Bericht deckt ein System auf, das von einer Vielzahl von Akteuren gespeist wird und von der Legalisierung der Besatzung, der rassistischen Segregation und Apartheid und heute vom Völkermord profitiert. Meine Arbeit baut auf den unglaublichen Anstrengungen und jahrzehntelangen Bemühungen der Zivilgesellschaft auf, vor allem der Palästinenser. Es gibt so viele Israelis, die sich gegen die Apartheid einsetzen, und sie sollten nicht unsichtbar gemacht werden. Es gibt so viele Juden, auch in diesem Land, die nicht wollen, dass dies in ihrem Namen geschieht. Es gibt Studenten, die das Handeln ihrer Universität kritisch hinterfragen. Wissenschaftler, die für eine Debatte kämpfen. Schauen Sie sich die Freie Universität Berlin an. Ich hatte gestern eine Veranstaltung dort, natürlich hinter verschlossenen Türen, natürlich mit einer begrenzten Anzahl von Personen. Und dennoch ist es ein Schritt nach vorne.

Ich bin jemand, der weiß, dass lange Strecken manchmal geduldig mit kleinen Schritten zurückgelegt werden müssen – ein Schritt nach dem anderen. Veränderung entsteht gemeinsam. Es gibt ein ganzes System, das Gaza zu einem Tatort gemacht hat, wo wir alle unsere Fingerabdrücke hinterlassen haben. Aber es gibt so viele, die die Komplizenschaft verschiedener Sektoren hinterfragen und untersuchen. Es gibt Wissenschaftler, die die Rolle des israelischen Universitätssystems und der israelischen Wissenschaft aufdecken. Es gibt ein Netzwerk israelischer Akademiker, die zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen aufrufen. Wir müssen uns also zusammenschließen, um diese Punkte zu verbinden und darüber hinaus zu vereinen. Es gibt eine Armee moralischer Kämpfer aus verschiedensten Hintergründen, und sie sind als Menschenrechtsgemeinschaft noch nicht besiegt.

Ich würde sagen, dass Sie als UN-Sonderberichterstatterin diese Rolle recht gut erfüllen, indem Sie diese verschiedenen Punkte miteinander verbinden. Aber Sie sind auch Schikane und Hetze ausgesetzt. Ich weiß nicht, ob Sie beispielsweise die deutschen Medien verfolgen.

Nein, tue ich nicht. Der Standard ist erschreckend niedrig. Und diese Berichterstattung zeigt eigentlich nur das Elend der Verfasser. Sie definiert nicht, wer ich bin.

Aber haben Sie keine Angst, irgendwann von den Vereinten Nationen ausgeschlossen zu werden?

Dies ist nicht meine Schlacht. Ich wurde zum Dienst für die Vereinten Nationen berufen, und ich leiste ihn unter großen Opfern, nicht nur persönlicher, sondern auch meiner Familie. Die Sanktionen, die die USA gegen mich verhängt haben, sind hart und haben sehr praktische und konkrete Auswirkungen. Und gleichzeitig hat moralische Integrität ihren Preis, und dieser Preis ist hoch. Die Verleumdungen der deutschen oder italienischen Medien gegen mich sind irrelevant, weil sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen.

Ich bin nur ein Werkzeug, um die Welt in bezug auf die besetzten Gebiete Palästinas weniger ungerecht und monströs zu machen. Als vor sechs Monaten der Sturm gegen mich losbrach und die Pro-Völkermord-Lobby darauf drängte, mich aus der UNO zu entfernen, war ich sehr ruhig und gelassen. Tatsächlich bin ich zwar erschöpft, aber habe auch das Vertrauen der Vereinten Nationen gewonnen. Die Verleumdungen sind für mich nur Hintergrundgeräusche. Die Realität ist, dass es einen Völkermord gibt. Und als Europäerin muss ich besser sein als meine Vorfahren.

Am 11. September sprach Francesca Albanese im Rahmen der Veranstaltung von »Besetzung gegen ­Besatzung« in der jW-Maigalerie.

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