»Freude ist ein zentraler Teil von Widerstand«
Von Carina SchererWie haben sich Graswurzelbewegungen und Kollektivarbeit in Berlin in den letzten Jahren verändert?
Berlin hat eine lange Geschichte bewegungsübergreifender Solidaritätsarbeit und linker Räume wie Køpi, ADEFRA, ISD und die Schokofabrik – wir stehen immer auf den Schultern derer, die vor uns waren. Je nach Bereich unterscheiden sich Arbeit, staatliche Unterstützung oder Repression. Besonders bei palästinasolidarischer Arbeit sind staatliche Interventionen enorm gewachsen: Polizeigewalt bleibt ohne Konsequenzen, Menschen werden diffamiert, kriminalisiert, arbeitslos gemacht, Wohnungen und Räume durchsucht. Immer neue, oft migrantisch und intersektional geprägte Netzwerke entstehen und richten den Blick auch auf weltweite dekoloniale Kämpfe, etwa im Kongo und im Sudan.
Wie schneidet Berlin im internationalen Vergleich ab?
Viele Berliner Gruppen sind zionistisch geprägt oder haben Angst, die Palästina-Solidarität zu unterstützen. Im Ausland muss ich oft das Phänomen der »Antideutschen« erklären. In Berlin führt Kritik am Genozid in Palästina zu Zensur, Diffamierung und Arbeitsunfähigkeit – mit starkem Silencing effect. Repression ist zwar global spürbar, doch Berlin zeigt eine besonders dogmatische Härte. Beispiele sind die deutsche Fridays-for-Future-Bewegung und die Verteufelung Greta Thunbergs. Während in Städten wie Tbilissi, Los Angeles, Jakarta oder Nairobi mehr Widerstand sichtbar wird, bleiben Deutsche dem Staat gegenüber auffallend gehorsam.
Wer soll erreicht werden und warum?
Am meisten interessiert mich, nicht nur die ohnehin Überzeugten zu erreichen, sondern meine weißen, indoktrinierten deutschen Nachbarinnen und Nachbarn am Berliner Stadtrand, wo ich lebe. Wenn es jemand schaffen kann, einen nachhaltigen, generationenübergreifenden Bewusstseinswandel anzustoßen, dann sind sie es. Das Schulsystem spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle, kritisches Denken zu fördern und den Diskurs durch Bildungsarbeit weiter zu öffnen. Entscheidend ist, dass die jüngste Generation die Werkzeuge und den Mut hat, das sektenhafte Dogma der Staatsräson zu hinterfragen und empathische, solidarische Gespräche in ihrem Umfeld zu führen.
Wie wird sichergestellt, dass gerade bei der jungen Generation die politische Botschaft nicht im »Eventcharakter« verloren geht?
Wenn es Raum für Austausch, Diskussion und Reflexion gibt, können Events etwas tiefer gehen. Nichtsdestotrotz ist Freude ein zentraler Teil von Widerstand – besonders für marginalisierte Menschen.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der nächsten Jahre ein?
Ich glaube nicht, dass es einfacher wird im Hinblick auf Polizeigewalt, Rechtsruck, Kürzungen, steigende Mieten und Arbeitslosigkeit, Aufrüstungspolitik und Wehrpflicht. Trotzdem sehe ich enormes Potential in solidarischem Vernetzen und dem Aufbau neuer Allianzen, um gemeinsam Widerstand zu leisten.
Wird Deutschland seine Loyalität zu Israel eines Tages aufgeben?
Wenn ich an Deutschlands Rassismusproblem und die bedingungslose Unterstützung Israels denke, kommt mir ein Zitat von James Baldwin in den Sinn: »Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, dass sie spüren: Ist der Hass erst einmal weg, werden sie mit dem Schmerz konfrontiert werden.« Deutschland weigert sich, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen. Was wäre Deutschland ohne Israel – und wann beginnt endlich der längst überfällige Entnazifizierungsprozess sowie die Aufarbeitung seiner kolonialen Verbrechen?
Nicky Böhm ist Kulturarbeiterin in Berlin und leitet seit einigen Jahren soziale Kunstprojekte in Zusammenarbeit mit NGOs sowie in der freien Szene. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Kultur, Politik und Community-Arbeit und versucht, Menschen zusammenzubringen, Räume zu schaffen und kreatives Storytelling zu ermöglichen
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