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Aus: Ausgabe vom 13.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Gegenkultur

Gelebte Utopie

Graswurzelbewegungen mischen die Berliner Kunst- und Kulturszene auf: Ein Gegenentwurf zu Repression und Rechtsruck
Von Carina Scherer und Amir Naghavi
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Improvisationssession am »geheimen Ort« mit Poet Lechiek (M.), Saxophonist Henry Weekes und Schlagzeuger Kuba

Mitten in Berlin, zwischen Hochhäusern, liegt hinter einem Metallzaun eine kleine Kulturenklave. Ein Geheimversteck kreativer Köpfe, das aus Sorge vor staatlicher Repression anonym bleiben möchte und dessen Mauern 2026 abgerissen werden sollen. Lokale und internationale Kollektive veranstalten hier Festivals mit Live-Musik, Film, Tanz, Kunst und Poesie.

Wer das Gelände betritt, landet auf einem Vorplatz, der an einen Parkplatz erinnert. Links und rechts sitzen modebewusste Menschen, rauchen, reden auf Deutsch, Englisch, Arabisch und in anderen Sprachen. Rechts führt der Eingang in ein labyrinthartiges Gebäude, in dem es geschäftig zugeht. An der Schlange vorbei hört man Musik aus allen Richtungen. Im großen Saal trägt jemand politische Gedichte vor, während Besucherinnen und Besucher eingeladen sind, Leinwände zu bemalen – einige haben bereits Pinsel und Farbe in der Hand. Um die Ecke: eine Bar, DJs, Infostände. In einem weiteren Raum flimmert ein Filmprojektor, Workshops finden ebenfalls irgendwo statt. Kurz: ein überwältigendes, neugierig machendes Ereignis.

Die Veranstaltung heißt Alter-Native. »Wir möchten Raum schaffen, damit diese sehr diverse Gruppe aus unterschiedlichen ›nativen‹ Hintergründen ihre Geschichten frei erzählen kann – als alternative Narrative zu den üblichen Geschichten«, erklären Ayman, Savanna und Tamara vom Organisationsteam. Die Veranstaltung sollte auf die Situation in Palästina, im Kongo und bei der sudanesischen Widerstandsbewegung aufmerksam machen und entsprechende Projekte unterstützen.

Es gibt sie also noch, die fast totgeglaubte Subkultur, die sich klar politisch positioniert. Sie erstarkt gerade jetzt in Zeiten von Repression und Rechtsruck, fast utopisch in Hinblick auf die vorherrschende politische Landschaft. »Wenn die Regierung Gelder kürzt, zwingt uns das, kreativ zu werden und zusammenzuarbeiten. Wir haben alles, was wir brauchen, in uns selbst und in unserer Community«, erklärt Mohamed, der seit seinem 18. Lebensjahr Blockpartys und Festivals in verschiedenen Teilen der Welt organisiert. Sein Festival »Wild Combination« bringt Kollektive, Künstler und Aktivistinnen aus seiner Arbeit zusammen, um sich auszutauschen, zu feiern und auch hier Spenden zu sammeln.

Eines der Kollektive, die er zum diesjährigen Wild Combination ins Geheimversteck einlud, heißt Rawy Films, eine Gruppe von Filmfans, die Filme aus der SWANA-Region (Süd- und Westasien und Nordafrika, jW) ohne Budget auf Berliner und internationale Leinwände bringt. »Wir haben gelernt, kreativ zu wirtschaften: Kooperationen statt Budgets, Räume teilen statt mieten. So bleibt es lebendig – trotz Nullfinanzierung«, so Hana, Mitgründerin von Rawy Films. Ziel ist es, alternative Geschichten jenseits von Blockbustern zu zeigen und Bewusstsein für eine unterrepräsentierte, meist negativ dargestellte Region zu schaffen. »Fast jede unserer Vorführungen ist ausverkauft – nicht, weil wir so großartig sind, sondern weil die Nachfrage riesig ist.«

Sie finde es erschreckend, dass in einer Stadt, die ihre Identität auf Freiheit und Kultur gründet, Institutionen mit klarer Haltung sanktioniert und zensiert werden, beklagt Anna*, eine der Mitbegründerinnen der Secret location. Gleichzeitig betont sie, dass Projekte, die sich jenseits staatlicher Kulturförderung formiert haben, in diesem Klima eine emanzipatorische und wichtige Rolle einnehmen – gerade, weil sie von den Finanzkürzungen nicht direkt betroffen sind.

Anna verweist auch auf die prekäre Natur dieser Arbeit: ohne finanzielle Stabilität, ohne Sicherheit – etwa in Bezug auf Räume: »Die ideale Form dieser Arbeit wären Formate, die die Freiheiten der DIY-Struktur erhalten, aber gleichzeitig finanzielle Sicherheit bieten.«

Während die staatlich geförderte Berliner Kulturszene sich aus Angst vor Kürzungen mundtot machen lässt, entsteht hier ein Gegenentwurf: eine Graswurzelbewegung, die es satt hat, im Berghain zu tanzen, als gäbe es keinen Genozid in Palästina, keine Kriege im Sudan, keine Bomben auf den Libanon.

Mit Blick auf die gesamtkulturpolitische Landschaft und den Rechtsruck in Deutschland zeigt sich, wie die CDU versucht, den konservativen und rechten Teil der Gesellschaft mit reaktionärer Politik zu beschwichtigen. Jüngstes Beispiel ist die Ernennung von Wolfram Weimer als Kulturminister – einem rechts- und marktliberalen Verleger, ehemaligem Chefredakteur von Die Welt und Focus. Welche Verdienste oder Erfahrungen er in Bezug auf Kulturpolitik in diesem Land mitbringt, bleibt unklar. Solche Entscheidungen zeigen, dass es in Deutschland nicht nur um finanzielle Kürzungen geht, sondern auch um epistemische und diskursive Gewalt.

In diesem Fall betrifft es marginalisierte und propalästinensische Stimmen im Kultursektor. Die Geschichte zeigt jedoch: Rechte Diskurse zu beschwichtigen, bedeutete immer Stillstand für progressive und antikapitalistische Bewegungen.

Anna erklärt, dass sie weiterhin nach einem Raum für die Fortführung sucht. Sie wisse nicht, was aus der Kulturlandschaft werde, wenn kollektive Projekte wie dieses nicht mehr stattfänden – sei es wegen finanzieller, logistischer Hürden oder Zensur. Dabei übernehmen diese die Arbeit, die die Berliner Kunst- und Kulturszene vermeidet, ohne Zögern und ohne Kompromisse.

*Name von der Redaktion geändert

Hana Khalil aus Kairo lebt seit 2016 in Berlin. Sie studiert Kamera an der Filmarche und gründete 2024 Rawy Films. Das Kollektiv zeigt Filme aus der SWANA-Region in Pop-up-Kinos. Rawy Films veranstaltet mittlerweile monatliche Vorführungen im Wolf-Kino in Neukölln. Außerdem veröffentlicht es in einem Onlinemagazin Beiträge von und über Filmschaffende aus der Region.

Mohamed El-Amin, geboren im Sudan, aufgewachsen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wohnhaft in Berlin, lebte in den USA, Schweden und Malaysia. Er ist unter anderem DJ, Moderator beim Berliner Onlineradiosender Refuge Worldwide, Initiator von »Black Is …« – einer geschlechtergerechten Plattform zur Unterstützung von BIPOC-Stimmen mit Sitz in Berlin und Amsterdam – und Gründer von »Wild Combination«, einer Multi-Kollektiv-Showcase-Reihe.

Ayman Ghali, Savanna Fortgang und Tamara Ghantous gründeten das Alt Collective, ein internationales Kollektiv, das ein selbstorganisiertes Kunst- und Musikfestival mit dem Titel Alter-Native ins Leben gerufen hat. Das Kollektiv besteht aus in Berlin lebenden Kulturschaffenden und Organisatoren aus Jordanien, Palästina, Libanon, den USA und Deutschland. Die erste Ausgabe von Alter-Native fand im Januar 2025 statt, die zweite im August 2025 als mehrtägiges Wochenendfestival.

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