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Aus: Ausgabe vom 08.09.2025, Seite 6 / Ausland
Großbritannien

Hunderte »Terroristen«

Zahlreiche Festnahmen in London wegen Solidarität mit »Palestine Action«. Gaza-Tribunal klagt an
Von Dieter Reinisch
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Wer solidarisch ist, wird abgeführt: Einsatzkräfte am Sonnabend in London

Während das Bild einer blutenden deutsch-irischen Palästina-Aktivistin nach einem brutalen Angriff der Berliner Polizei um die Welt geht, verschärfen auch britische Einsatzkräfte ihr Vorgehen. Am Sonnabend verhaftete die Polizei 425 Protestierende bei einer Kundgebung gegen das Verbot der Gruppe »Palestine ­Action« (PA) im Zentrum Londons.

Gegen die Einstufung der Gruppe als »terroristisch« im Juni kamen laut Organisatoren 1.500 Personen in der Hauptstadt zusammen. Bekannt wurde PA mit direkten Aktionen gegen den israelischen Waffenproduzenten Elbit Systems und militärische Einrichtungen, die mit Israel kooperieren. »Ich bin gegen Völkermord, ich unterstütze Palestine Action« war auf Schildern zu lesen. Derartige Slogans waren Anlass für die Festnahmen. Die Polizei gab an, die meisten seien wegen Unterstützung einer verbotenen Organisation erfolgt.

Um 13 Uhr Ortszeit hatten sich Hunderte Demonstranten mit Plakaten vor der Mahatma-Gandhi-Statue auf dem Parliament Square versammelt. Laut Medienberichten begann die Polizei 15 Minuten nach Beginn der Kundgebung, Teilnehmer mit PA-solidarischen Schildern festzunehmen. Die Organisatoren des Protests schrieben in einer Aussendung, Polizisten hätten »friedliche Demonstranten, darunter auch ältere Menschen, gewaltsam angegriffen, um Menschen wegen des Hochhaltens von Pappschildern festzunehmen«.

Die 79jährige Demonstrantin Margaret sagte der BBC, sie sei aus Dorset angereist, um am Protest teilzunehmen: »Das Gesetz ist lächerlich. Wir werden Terroristen genannt – das ist absoluter Blödsinn.« Kerry Moscogiuri von Amnesty International erklärte, es sei »wirklich schockierend zu sehen, wie Menschen von der Polizei aus den Straßen Londons gezerrt werden, weil sie friedlich Schilder hochhalten«. Auch im schottischen Edinburgh gab es zwei Verhaftungen bei einem Protest in Solidarität mit PA am Sonnabend. Bereits am 10. August waren bei einem Protest für PA in London mehr als 500 Menschen verhaftet worden.

Die Einstufung von PA als terroristisch geht auf ein Gesetz aus dem Jahr 1999 zurück. In der Parlamentsdebatte dazu, die am Wochenende vom Investigativportal Declassified UK veröffentlicht wurde, diskutierten Abgeordnete darüber, ob Aktivistengruppen wie Greenpeace aufgrund von Eigentumsbeschädigungen unter ein Verbot fallen könnten. Der damalige Labour-Innenminister Jack Straw versicherte, dass dies nicht der Fall sein würde. Doch genau dieses Gesetz und die Beschädigung von Militärgerät wurden nun von einer Labour-Regierung zum Anlass genommen, um gegen PA vorzugehen.

Als Redner und Mahner in der Debatte trat vor 26 Jahren auch Jeremy Corbyn auf. Das Peace-and-Justice-Projekt des früheren Labour-Vorsitzenden hielt am Donnerstag und Freitag in London ein zweitägiges Gaza-Tribunal ab, bei dem die Mittäterschaft der britischen Regierung am Völkermord aufgearbeitet wurde. Anwesend waren überlebende palästinensische Opfer israelischer Greueltaten sowie Völkerrechtsexperten, Journalisten, Mediziner und Wissenschaftler.

Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, nahm per Videokonferenz an der Untersuchung teil. Sie sagte, es bestehe die Verpflichtung für Staaten wie Großbritannien, ihre Investitionen in und Wirtschaftsbeziehungen mit Israel einzustellen, doch sie hätten kläglich versagt, indem sie dem Land Waffen, militärische Hilfe und politische Unterstützung zukommen ließen. »Diese Nichteinhaltung langjähriger internationaler Verpflichtungen könnte ausreichen, um ein Strafverfahren wegen Mitschuld an den Handlungen Israels einzuleiten«, fügte sie hinzu.

Corbyn organisierte das Tribunal, nachdem sein Gesetzentwurf zurückgewiesen worden war, in dem er die Regierung aufforderte, eine unabhängige Untersuchung der britischen Beteiligung an israelischen Militäroperationen im Gazastreifen einzuleiten, einschließlich der Lieferung von Waffen, Überwachungsflugzeugen und der Nutzung von Stützpunkten der Royal Air Force. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, das volle Ausmaß der Mitschuld ihrer Regierung am Völkermord zu erfahren. Deshalb veranstalten wir das Gaza-Tribunal«, hieß es von seiten der Organisatoren.

Ähnliche Gaza-Tribunale wurden im Mai und Juni bereits in Sarajevo und Duisburg abgehalten. Ein weiteres wird im Oktober in Istanbul stattfinden, bei dem die Ergebnisse eines Expertenkomitees präsentiert werden, das derzeit das Treffen in Sarajevo auswertet.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. September 2025 um 10:43 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel: Die Samstagsdemonstrationen gegen das Verbot von »Palestine Action« laufen bereits seit Wochen. So berichtete The Economist am 16. August 2025: »Einer nach dem anderen holte die Polizei am 9. August Unterstützer von «Palestine Action» aus der Menge vor dem britischen Parlament. Mit seinen 75 Jahren war Sir Jonathon Porritt, ein Umweltaktivist, ein ziemlich typisches Beispiel. Rund jeder Fünfte der Festgenommenen war bereits in den Siebzigern. Eine gebrechliche 81-Jährige wurde vorsichtig von drei Polizistinnen abgeführt – ›Sie hat einen Stock!‹, rief ein Demonstrant. Sie war nicht die einzige Achtzigjährige. Insgesamt wurden 15 Menschen über 80 von der Metropolitan Police weggebracht – im Vergleich zu nur sechs Teenagern. Am Ende des Tages waren 532 Personen festgenommen, die Hälfte davon über 60 Jahre alt.« Der britische Artikel kommentierte dies polemisch als »Revolution der Runzeln«. Diese Schilderung zeigt deutlich: Selbst friedliche Demonstrationen, getragen von Menschen bis ins hohe Alter, stoßen in heutigen Demokratien auf massive staatliche Repression. Offenbar lässt sich mit gewaltfreiem Protest allein kaum noch etwas erreichen.

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