Aus dem Sommerschlaf erwacht
Von Felix Bartels
Am zehnten Tag sollst du ruhen. Nicht ganz die Hälfte liegt hinter den Teilnehmern, und das Klassement hat kurz vorm Restday dann doch noch etwas Struktur bekommen. Obgleich mit Torstein Træen weiterhin ein Ausreißer das Rote Trikot trägt, reihen sich dahinter die üblichen Verdächtigen.
Schuld daran trägt Jonas Vingegaard, der den Schlussabschnitt der neunten Etappe für einen überraschenden Angriff nutzte. Überraschend, weil der Anstieg mit 13,3 Kilometern und 5,2 Prozent weder besonders lang noch besonders steil war. Eben dort anzugreifen, wo es sich scheinbar nicht lohnt, und eben dadurch dann doch Zeit zu gewinnen, diese Fahrweise ist für den tendenziell im Verwaltungsmodus fahrenden Vingegaard untypisch. Bei der gesamten Tour de France im Juli hatte er Tadej Pogačar aufgerundete zweimal attackiert, und die bisherige Vuelta war er defensiv geblieben. Die Attacke nach Valdezcaray erinnerte vom Stil her stark an Pogačar: im Finale mal eben die Taktik umwerfen, später süffisant berichten, überrascht gewesen zu sein, dass noch zehn Kilometer zu fahren sind, sich aber gleich gedacht zu haben: Scheiß drauf – das sind beste Pogačar-Vibes, und man wünscht sich durchaus, häufiger diesen Vingegaard zu sehen.
Als härtester Konkurrent hat sich erwartungsgemäß João Almeida erwiesen. In Topform, die er nach seinem Rippenbruch im Juli vielleicht nicht hat, kann er gegen Vingegaard sowohl am Berg als auch beim Zeitfahren standhalten, solange die Belastung unterhalb der FTP- Schwelle bleibt. Die ist bei Almeida sehr hoch, doch wenn Attacke auf Attacke folgt, kann er nicht immer sofort mitgehen, das Fahren im anaeroben Bereich liegt ihm weniger. Den gewöhnlich nervenstarken und taktisch klugen Fahrer scheinen die nunmehr 37 Sekunden Rückstand etwas anzufressen, im Ziel warf er eine Spitze gegen seinen Teamkollegen Juan Ayuso. Der hat einmal mehr alle Erwartungen bestätigt: Als nach der sechsten Etappe seine Chance aufs Podium dahin war, holte er zwar für sich auf dem nächsten Abschnitt den Tagessieg, scheint aber nicht bereit, sich als Helfer für Almeida zu verausgaben.
Die Vuelta hatte drehbuchmäßig begonnen. Auf der ersten Etappe sicherte sich der endschnellste Mann im Feld, Jasper Philipsen, nach perfektem Lead-out den Sieg. Die zweite Etappe gewann Vingegaard, auch wenn er wenig dafür getan hatte, die Chance herbeizuführen. Auffällig hier wie auch schon im Juli: Seine Sprintfähigkeit scheint enorm verbessert, eine Reaktion gewiss auf Pogačars Dominanz in diesem Segment. Auf der dritten Etappe wurde die Rundfahrt interessant. Zunächst siegt David Gaudu mit einem Coup im ansteigenden Finale. Nicht nur physisch souverän, indem er Vingegaard und Mads Pedersen quasi stehenließ, auch taktisch. Vingegaard hatte an der letzten Kurve vor dem Ziel die Innenseite offengelassen, Gaudu nutzte den kürzeren Weg. Die fünfte Etappe endete im Sprint Royal, Philipsen verschätzte sich im Positionskampf und fuhr hinter Ben Turner über den Strich.
Die folgenden drei Etappen gehörten ganz dem UAE-Team. Zunächst gewann die Truppe um Almeida das Teamzeitfahren, Vingegaards Visma-Formation hatte im zweiten Abschnitt zuviel Zeit eingebüßt. Auf der sechsten Etappe siegte Jay Vine als Ausreißer am Schlussanstieg. Der exzellente Zeitfahrer mit Zwift-Hintergrund fuhr in gleichmäßig hohem Tempo einen sicheren Abstand heraus. Dass Vine vorhat, auch dieses Jahr wieder das Bergtrikot zu holen, sieht man nicht nur an seinen Attacken, sondern auch daran, dass er sich vom ersten Tag an immer wieder in der Schlussphase der anderen Etappen zurückfallen ließ, um Zeit zu kassieren. Einen Fahrer mit großem Rückstand lässt man eher ziehen, Vine wird die restliche Vuelta nutzen, unterwegs die nötigen Punkte einzusammeln. Auf der siebenten Etappe antwortete dann Ayuso auf seinen Einbruch am Vortag. Ohne erkennbare Formprobleme ging er als Ausreißer in den letzten Anstieg und siegte.
Auf dem flachen achten Teilstück holte Philipsen den zweiten Tagessieg, obwohl der Sprintzug von Alpecin nicht reibungslos funktioniert hatte. Die neunte Etappe gewann, wie beschrieben, Vingegaard. Im Klassement sind die Abstände weiter gering, aber die schweren Ankünfte kommen erst noch. UAE hat mit Ayuso die zweite Spitze verloren, wodurch die taktische Option wegfällt, Vingegaard in die Zange zu nehmen. Das gilt allerdings auch für Visma, da Sepp Kuss und Matteo Jorgenson mittlerweile Minutenrückstand haben. Kurz vor der Halbzeit scheint alles auf einen Zweikampf Vingegaard gegen Almeida hinauszulaufen.
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