»Besonders für ältere Menschen ist das hart«
Interview: Gitta Düperthal
Das Thema wurde ganz plötzlich auf die Tagesordnung gesetzt: Die Genossenschaft »Karl Marx« in Potsdam will knapp 400 Wohnungen verkaufen. Mieterinnen und Mieter fühlen sich übergangen. Wie kam es dazu?
Wir sind absolut überrascht worden. Im Juli erhielten wir einen Brief, in dem die Wohnungsgenossenschaft »Karl Marx« mitteilte, dass unsere Mietwohnungen verkauft werden sollen. Ich wohne mit meiner Frau und meinem Kind darin. Wir haben geweint. Denn im Grunde ist eine Genossenschaft etwas Verlässliches. Wir hatten damit gerechnet, mit einer sozialverträglichen Miete hier wohnen bleiben zu können; nicht aber damit, dass so Grundsätzliches über unsere Köpfe hinweg entschieden wird. Freilich erhalten Mieterinnen und Mieter zunächst ein Vorkaufsrecht, erst danach darf an Privatpersonen verkauft werden. Aber wer kann sich schon leisten, eine Eigentumswohnung zu kaufen? Viele sind nicht vermögend genug oder auch zu alt, um dafür einen Kredit zu bekommen.
Wie wurden diese Genossenschaftswohnungen entwickelt?
Alles basiert noch auf einer Regelung aus der DDR. Nach der Wende, in den 1990er Jahren, wurde politisch das Altschuldenhilfegesetz (für sogenannte Altschulden kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsunternehmen, jW) beschlossen. Danach galt es, 15 Prozent des Bestandes der Wohnungen der ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften zu privatisieren, so auch in der »Karl Marx«. Weil das bis 2001 erfüllt war, mussten keine weiteren mehr verkauft werden. Unsere 397 Wohnungen sind dabei bis heute übrig geblieben. Als Eigentumswohnungen ausgewiesen sind sie weiterhin im Bestand der Genossenschaft. Werden sie nun privatisiert, würde sich das auf die Mieten in der Stadt auswirken, der Mietspiegel insgesamt würde angehoben. Es wäre ein Schritt in die falsche Richtung.
Begründet wird der beschlossene Verkauf der Wohnungen mit der Wärmewende. Ist dies so kostspielig, dass einzig der Verkauf bleibt?
Das haben wir uns auch gefragt. Die Energiewende ist ein politisches Konstrukt. Wie sie umzusetzen ist und gefördert wird, muss erst noch entschieden werden. In Potsdam sind wir mitten im Oberbürgermeisterwahlkampf. Es ist Thema in der Stadt. Einig sind sich alle: Beim Wohnen muss gewährleistet sein, dass sozialverträgliche Lösungen gefunden werden. Bei uns im Block hat die erwähnte Sanierung schon begonnen. All das sollte die Genossenschaft im Gespräch mit allen Mieterinnen und Mietern klären.
Im Fall von Eigenbedarfskündigung oder Mieterhöhung gibt es eine Frist von fünf Jahren, so ist es in der Genossenschaft geregelt. Soll das nun heißen: Wer kein Geld hat, soll sich nicht aufregen, es trifft ihn erst später?
Wer das Angebot einer Ersatzwohnung nicht wahrnimmt, wird damit konfrontiert, dass er zwar noch fünf Jahre lang mit sozialverträglicher Miete wohnen kann, danach aber Erhöhungen des freien Marktes ausgesetzt sein und keine Ersatzwohnung mehr gestellt bekommen wird. Schutz vor Eigenbedarfsklagen und Mietsteigerungen verfällt. Wer es annimmt, wird etwa auch in andere Stadtteile ziehen müssen. Besonders für ältere Menschen, die lange hier wohnen, ist das hart. Sie würden Ärzte, Pflegekräfte oder Läden vor Ort verlieren, die sie kennen.
Rund 150 Bewohner entschieden sich bei einem Treffen am 17. Juli zur Gegenwehr.
All das betrifft junge und alte Menschen. Einige wohnen schon seit 40 Jahren hier und kamen mit Rollatoren an. Etwa zehn Leute, die ein gutes Netzwerk und Zeit haben sowie engagiert sind, werden versuchen, mit der Genossenschaftsvertretung ins Gespräch zu kommen.
Gibt es divergierende Interessen der Bewohner?
Die Mehrheit der Menschen will hier zur Miete weiterleben. Freilich gibt es auch den Fall, dass eine Wohnung zu groß ist, etwa weil Kinder ausgezogen sind oder ähnliches. Nur wenige freuen sich, sie als Eigentum kaufen zu können oder eine neue angeboten zu bekommen. Wer das möchte, kann darauf eingehen. Aber es muss freiwillig sein, eine Verdrängung darf es nicht geben.
Welche Chance sehen Sie, sich durchzusetzen?
Die Vertreterversammlung der Genossenschaft hat demokratisch entschieden. Aber eine Wohnung ist ein so essentielles, wichtiges Gut, dass man allen Betroffenen ein Mitspracherecht einräumen muss. Wir wollen auf ein Gesprächsangebot hinwirken, aber bisher hat sich leider nichts getan.
Robert S. ist Mitglied der Interessengemeinschaft der vom Verkauf betroffenen Mieterinnen und Mieter der Karl-Marx-Genossenschaft in Potsdam
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Leserbrief von B. W. (22. August 2025 um 12:21 Uhr)Unsere Wohnungsgenossenschaft hat uns Mieter vor vollendete Tatsachen gestellt und uns erst nach dem Verkauf im Juli informiert. In unserer Stadt werden hochpreisige Wohnungen durch die Genossenschaft gebaut, daher ist kein Geld zur Sanierung des Altbestandes da. Dieser Umgang ist einfach respektlos und enttäuschend.
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Leserbrief von Marco Schmidt aus Potsdam (22. August 2025 um 16:01 Uhr)Offen gesagt, hätte der langjährige Bewohner der Karl-Marx-Wohnung die Immobilie bereits vor Jahren zu einem deutlich geringeren Preis erwerben können. Über 700 Interessenten haben dieses Angebot wahrgenommen, zu einem Preis, der heute kaum für ein Fahrzeug der Mittelklasse ausreicht. Diejenigen, die sich damals für den Erwerb entschieden haben, dürften mit ihrer Entscheidung sehr zufrieden sein. Darüber hinaus müssten alle anderen Nutzer der Karl-Marx-Wohnung die Sanierungskosten mittragen. Ich kann die Unzufriedenheit über diese Entscheidung nachvollziehen. Möglicherweise ist die Ursache für diese Situation in der Politik zu suchen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in H.-J. R. aus Berlin (24. August 2025 um 19:50 Uhr)»Offen gesagt, hätte der langjährige Bewohner der Karl-Marx-Wohnung die Immobilie bereits vor Jahren zu einem deutlich geringeren Preis erwerben können.« Ich kann Marco Schmidts Bemerkung absolut nicht zustimmen! Genauso gut könnte er mir sagen, dass ich Privatpatient werden solle, statt Kassenpatient zu bleiben. Die Genossenschaftsidee hat sozialen Charakter. Bei Wikipedia steht markant so u. a.: »Durch die Kraft der Gemeinschaft … werden Einzelne in die Lage versetzt, sich selbst zu helfen, entsprechend dem Motto von Friedrich Wilhelm Raiffeisen «Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele».« Der Missbrauch in diesem System – wo Tauschwert alles und Gebrauchswert nichts mehr bedeutet und nicht zuletzt der Mensch würdelos – eben durch unantastbare Würde des Kapitals (was in diesem GG fehlt) zur Wegwerfgesellschaft zählt – macht vor nichts halt, so auch nicht vor dem Namen Karl Marx, dessen Erbe ausgehöhlt und entehrt wird. Leider machten und machen dabei zu viele mit – und sei es nur durch Duldung – bei der entmenschlichenden Freiheit mittels des Unrechtsrechts.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (22. August 2025 um 02:47 Uhr)Es trifft immer auch viele Unschuldige an dieser ganzen Misere. 1989 tauschte unsere Familie die Wohnung in Schwerin mit einer anderen in einem neuen Wohnblock in Berlin-Hohenschönhausen, der meiner Vermutung nach für einen bestimmten Berufskreis errichtet worden war. Die andere Familie wollte jedenfalls sehr schnell wegziehen. Das Angebot war reiner Zufall, eine sehr schöne Wohngegend mit Blick ins Grüne in der Nähe von Orankesee, Fauler See, Obersee. Wären wir in Berlin geblieben, würde uns jetzt vielleicht auch das gleiche Schicksal ereilen, wie aus Potsdam geschildert. Was mich damals 1989 entsetzte, waren die Müllcontainer dieses kleinen Komplexes von Neubauten. Sie quollen über von ganzen Bibliotheken der Werke von Marx und Lenin. Die entsorgte nicht nur eine Familie. Das waren viele Bibliotheken. Und der Durchschnitssbürger der DDR hatte zu Hause vielleicht einige Werke, aber nicht die Gesamtausgabe von Marx in seinem Wohnzimmer. Viele der alten Mieter blieben in dem Haus wohnen. Alles hat seinen Preis. In der DDR herrschte Mangel an manchen Waren, aber weniger an erschwinglichem Wohnraum. Nun ist es umgekehrt – wie von SPD (SDP) und CDU Wählern der DDR am 18. März 1990 wissentlich oder unwissentlich gewählt. Wenn man jetzt Mieter aus einer Wohnungsgesellschaft names »Karl Marx« hinauswirft, so liegt das ganz entscheidend daran, dass zuerst Mieter solcher Wohnungen Karl Marx aus ihrer Wohnung entfernten. Viele von solchen Opportunisten gaben die DDR schon 1989 auf, ein Jahr vor ihrem vielleicht noch vermeidbaren Ende, während sie am 4. November 1989 als Redner auf dem Alexanderplatz davon allerdings noch kein Sterbenswörtchen verlauten ließen. Man weiß ja nie, wohin der Hase letztendlich läuft. Aber da wurden von einigen Rednern bereits künftige Karrieren geschmiedet. Gregor Gysi wird garantiert niemand aus seiner Wohnung setzen, obwohl der sicher seine vollständige Bibliothek noch hat, wenigstens das. Schließlich wohnt er ja nicht in Lwiv.
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